Patientinnen untereinander

Ein Übungsfeld für das Leben

Die interpersonelle Modulgruppe der Klinik Meissenberg ist eine Gruppenpsychotherapie und bietet unseren Patientinnen die Möglichkeit, sich in einem sicheren Rahmen mit anderen über eigene Erfahrungen auszutauschen. Gleichzeitig eröffnet sie ein Übungsfeld für die Gestaltung von zwischenmenschlichen Beziehungen.

Im Sitzungszimmer der Klinik Meissenberg versammeln sich an diesem Mittwochmorgen acht Patientinnen der Abteilung Depression und Burnout. Wöchentlich findet hier die interpersonelle Modulgruppe statt – eine Gruppenpsychotherapie geleitet von den beiden Psychotherapeutinnen Cornelia Künzler und Dalila Hodzic. Worum es geht, bringt eine Teilnehmerin gleich zu Beginn auf den Punkt: «Ich habe das Gefühl, die Gruppe ist wie ein «Versuchsleben». Im geschützten Rahmen können wir hier lernen, unsere Beziehungen anders zu gestalten.» Denn genauso wie im richtigen Leben treffen hier ganz unterschiedliche Menschen aufeinander: Die Gruppe setzt sich aus Frauen diversen Alters, vielfältigen Erfahrungshorizonten und verschiedenen Problemstellungen zusammen. 

Die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen für die Psyche

Die Gruppenpsychotherapie bildet neben der Einzelpsychotherapie, den medizinischen und pflegerischen Angeboten und den Spezialtherapien einen wichtigen Bestandteil des Therapieplans der Klinik Meissenberg. Die interpersonelle Modulgruppe ist spezifisch auf die Behandlung von Depressionen ausgerichtet. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass psychische Erkrankungen in der Beziehung eines Individuums zu seiner Umwelt entstehen und aufrechterhalten werden. Beispielsweise können schwierige Lebensumstände und belastende Lebensereignisse wie der Tod einer nahestehenden Person, Arbeitsplatzverlust, finanzielle Probleme oder konflikthafte Beziehungen zur Entwicklung depressiver Symptome führen. Eine Depression ist häufig gekennzeichnet durch einen erhöhten Rückzug aus sozialen Beziehungen und einem Verlust des Glaubens an die Wirksamkeit des eigenen Handelns. Meist liegen zusätzlich frühkindliche Traumatisierungen und negative prägende Bindungserfahrungen zugrunde. Das Rückzugsverhalten ist auch an diesem Morgen ein Thema, wie eine Patientin zu Beginn der Therapie äussert: «Ich möchte heute nicht reden. Es geht mir heute nicht gut, nur ein zwei Tage in den letzten Wochen waren besser, der Rest war schwierig.»  

Achtsamkeit für die eigene Befindlichkeit fördern

Das ist von allen akzeptiert: An der Gruppenpsychotherapie darf jede Patientin so teilnehmen, wie sie kann. Und jede hat ihren Platz, sich zu öffnen. Die beiden Therapeutinnen legen grossen Wert auf Achtsamkeit. Dazu gehört auch, die eigene Befindlichkeit auszudrücken. Oder zu spüren: Wo ist mein Eigenraum und wo sind meine Grenzen? Denn im Alltag geht die Achtsamkeit für die eigene Gemütslage oft unter. Cornelia Künzler führt aus: «Häufig sind wir im Alltag mit dem Autopiloten unterwegs, um den oft geballten Alltag mit seinen vielen Aufgaben bewältigen zu können». Genau das ist aber oft problematisch: «Achtsamkeitsübungen helfen, den Eigenraum und die eigenen Grenzen zu spüren, aber auch eine Sensitivität für die Umwelt wieder zu erlangen». Cornelia Künzler ergänzt: «Es ist zu vergleichen mit dem Tangotanz, wo zunächst eine achtsame Präsenz für den eigenen Raum und das eigene Gleichgewicht erforderlich ist, um sich erst dann mit dem Gegenüber verbinden zu können und dabei nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten». Eine Patientin bestätigt: «In der Gruppe habe ich gelernt, anderen Menschen näherzukommen und gleichzeitig meine Grenzen nicht zu überschreiten – das ist eine wichtige Erfahrung.»

«Achtsamkeitsübungen helfen, den Eigenraum und die eigenen Grenzen zu spüren, aber auch eine Sensitivität für die Umwelt wieder zu erlangen.»

Cornelia Künzler

 

 

Theoretisches Fundament und Rahmenbedingungen

Die Gruppenpsychotherapie soll dabei sowohl Theorie vermitteln wie auch Erfahrungen im sozialen Rahmen ermöglichen. In der interpersonellen Modulgruppe lernen Patientinnen, die Entstehungsfaktoren ihrer Depression besser zu verstehen und sich wieder als aktive sowie selbstbestimmte Menschen in soziale Beziehungen einzubringen. Der theoretische Unterbau dieser Psychotherapiegruppe beruht in Teilen auf dem so genannten Kiesler-Kreis Modell (mehr dazu in der Box). Die Stärkung der Beziehungsfähigkeit ermöglicht das Erleben sicherer und heilsamer Bindungserfahrungen. Die Gruppenpsychotherapie ist dafür gut geeignet, da in der Beziehung zu Mitmenschen Verhaltens- und Erlebensweisen auftreten können, die in der Einzeltherapie nicht zugänglich wären. Ausserdem ermöglicht der geschützte Rahmen einer Gruppenpsychotherapie einen wertvollen Austausch eigener Lebenserfahrungen, denn jede Teilnehmerin ist Expertin ihrer eigenen Problemlösung. «Und neben der Individualität jeder Lebensgeschichte erleben wir immer wieder, dass wir Menschen mit ähnlichen Lebensthemen konfrontiert sind», sagt Cornelia Künzler. «Auch wir Therapeutinnen sind als Mensch in der Gruppe beteiligt und lernen oft viel aus den Lebensgeschichten aller Beteiligten – dafür sind wir sehr dankbar. Im gleichen Boot zu sitzen, schafft Vertrauen. Gleichzeitig lernt jede, dass sie für ihr Leben selbst verantwortlich ist und es selbst in die Hand nehmen muss», sagt Dalila Hodzic.

 

Wichtiger Erfahrungsaustausch 

An diesem Morgen sind Energiebringer und Energienehmer das Thema. Jede Patientin teilt ihre Gedanken mit der Gruppe. Das Wort «Disziplin» wird besonders lebhaft diskutiert. Es gibt unterschiedliche Meinungen zur Bedeutung des Wortes. Eine Patientin sagt: «Es braucht Disziplin, damit ich die Dinge in Angriff nehme, die mir guttun.» Eine andere kontert: «Das Wort Disziplin macht etwas mit mir». So kommt in der Gruppe ein wertvoller Erfahrungsschatz zusammen. Die authentischen Rückmeldungen auf das eigene Verhalten ermöglichen eine gesunde Selbstreflexion. «In der Gruppe werde ich akzeptiert, aber die Diskussionen bewegen auch etwas in mir. Das wiederum hilft mir zu erkennen: Was ist jetzt passiert? Warum bin ich jetzt verletzt oder enttäuscht?», erkennt eine Patientin. Durch den Erfahrungsaustausch in der Gruppe entsteht Vertrauen. 

Veränderungen spüren – durch erlebnisorientierte Übungen

In jeder Sitzung werden auch erlebnisorientierte Übungen durchgeführt. Diese tragen dazu bei, dass die besprochenen Themen auf eine lebensnahe Weise erfahrbar werden. «Die erlebnisorientierten Übungen hinterlassen bei den Patientinnen oft einen bleibenden Eindruck und wertvolle Erfahrungen, weil sie den Kontakt zum eigenen Selbsterleben herstellen», sagt Dalila Hodzic. Denn persönliches Wohlbefinden und Wachstum entstehen erst durch eine einheitliche Verbindung zwischen Erfahrungen auf körperlicher, emotionaler, gedanklicher und Handlungsebene. Gelassenheit, Verbundenheit, Präsenz und Zentriertheit sind Merkmale eines guten Selbstkontaktes und ermöglichen eigenverantwortliches Handeln und authentisches Sein in Beziehungen.

«Die erlebnisorientierten Übungen hinterlassen bei den Patientinnen oft einen bleibenden Eindruck und wertvolle Erfahrungen, weil sie den Kontakt zum eigenen Selbsterleben herstellen»

Dalila Hodzic

An diesem Mittwochmorgen wird erlebbar gemacht, wie eine Verbundenheit im sozialen Raum geschaffen werden kann, ohne sich dabei selbst zu verlieren. Dazu wird ein Wollknäuel über den Tisch gereicht. Es ist eine Übung ohne Worte. Auf dem Tisch entsteht nach und nach ein Netz aus Wolle, mit dem jede Patientin verbunden ist. Das Netz bietet ein einzigartiges Erleben eines vertrauensvollen Zusammenhalts, der heilsam ist. «Solche Übungen helfen mir zu verstehen: Es ist möglich, mich mit meinen persönlichen Sorgen und Nöten mit anderen zu verbinden und damit nicht allein zu sein», bestätigt eine jüngere Patientin. 

Die Wirkung der Gruppentherapie auf den Alltag

Was heute Morgen deutlich spürbar ist: Jede Gruppenteilnehmerin ist mit ihrem einzigartigen Wesen präsent und auf ihre eigene Art und Weise bereichernd für die Gruppe. «Jede Gruppensitzung ist anders, und man weiss nie, in welche Richtung sich diese entwickelt», sagt Cornelia Künzler. Die heutige Gruppensitzung war geprägt durch einen lebendigen Austausch und humorvolle Stimmung. Gleichzeitig lag eine nachdenkliche und melancholische Atmosphäre in der Luft. «Die Gruppetherapie ist wie Jazz. Zwischen der klar vorgegebenen inhaltlichen Struktur entsteht Raum für die Gestaltung von etwas Gemeinsamem. Jede einzelne Teilnehmerin trägt durch ihre Beteiligung dazu bei. Das gemeinsame Halten eines belastbaren Beziehungsraumes, in dem es Platz für schöne Momente aber auch für unangenehme Gefühle, Konflikte und belastende Lebensthemen gibt, ist eine einzigartige Erfahrung und repräsentiert letztendlich das Leben», sagt Dalila Hodzic. 

Eine Patientin, die kurz vor dem Austritt steht, äussert sich wie folgt: «Ich fühle mich nun bereit, mit diesem Erfahrungsschatz wieder in meinen Alltag einzusteigen. Ausserdem habe ich gelernt, dass ich die Verantwortung für mein Leben selbst übernehmen muss, aber gleichzeitig in Verbindung mit meinen Mitmenschen sein kann.»

Text Delia Freitag, Dalila Hodzic, Cornelia Künzler

Foto Delia Freitag, Dalila Hodzic, Cornelia Künzler

Kiesler Kreis

Der Kiesler-Kreis wurde entwickelt vom US-amerikanischen Psychologen Donald J. Kiesler, welcher sich mit der Theorie, Diagnostik und Therapie von interpersonellen Problemen beschäftigte. Der Grundgedanke des Kiesler-Kreises ist, dass sich zwei Menschen immer gegenseitig beeinflussen, wenn sie miteinander kommunizieren. Der Kiesler-Kreis verdeutlicht, dass unser Verhalten immer Auswirkungen auf die Reaktionen und das Verhalten anderer Menschen hat.

Das Kiesler-Kreis-Training (KKT) wird bei verschiedenen psychischen Störungen wie beispielsweise bei chronischen Depressionen, Burnout oder bei Persönlichkeitsstörung angewendet. Es bietet den Betroffenen die Möglichkeit, ihre Wirkung auf andere besser zu verstehen und neue Verhaltensweisen zu erproben. Durch das Training im Kiesler-Kreis kann gelernt werden, flexibler auf zwischenmenschliche Situationen zu reagieren, die eigene Wirksamkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen zu stärken und die Kommunikation zu verbessern. Das Ziel ist es, positive Beziehungen aufzubauen und Konflikten effektiv begegnen zu können. 

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