Podcast: Angststörung

In der neunten Folge der Power-Boost-Podcasts spricht Moderatorin Andrea Haefeli mit Dr. Peter Peiler über das Thema Angststörung.


Hier finden Sie das komplette Interview zum nachlesen und als MP3-Download.

Moderatorin: Willkommen zum Podcast Power Boost. Mein Name ist Andrea Haefeli. Bei mir im Studio ist Dr. Peter Peiler. Er ist medizinischer Leiter und Mitglied der Geschäftsleitung in der Frauenklinik Meissenberg in Zug. Hallo Peter!

Dr. Peiler: Hallo Andrea!

Moderatorin: Heute reden wir über Angststörungen. Was genau versteht man unter einer Angststörung?

Dr. Peiler: Das Gefühl der Angst ist eine existenzielle Grunderfahrung. Ohne Angst könnten wir als Menschen überhaupt nicht existieren, weil es ein wichtiges Signal für Bedrohung und Gefahr ist oder eine Falle signalisiert.

Nur ist bei einer Angststörung diese Angst übersteigert und übertrieben. Die Bedrohungsquelle ist nicht so gefährlich, wie man sie wahrnimmt. Es kommt dann zu einer sehr starken Symptom-Ausprägung, also sehr intensiver und langanhaltender Angst. Das führt zu starken Beeinträchtigungen, die auch körperlicher Art sind, und ist auf Dauer sozial sehr beeinträchtigend, weil man in seinem Lebensradius sehr eingeschränkt wird. Das Entscheidende an der Angststörung ist die Übertriebenheit der Angst in den Situationen, in denen sie auftritt.

Moderatorin: Du hast ja gerade gesagt, für manche Menschen ist Angst ein Instinkt, der auch vor gewissen Gefahren schützt. Aber so ein Instinkt ist ja angeboren. Kann man sagen, dass eine Angststörung auch angeboren ist oder ist das etwas, was sich später entwickeln kann?

Dr. Peiler: Angststörung sind zum grossen Teil auch genetisch beeinflusst. Knapp 40% aller Fälle einer individuellen Angststörung haben einen genetischen Ursprung. Und was dann hinzukommt, sind auch entsprechende Lebenserfahrungen, die eine Angststörung oder die Entwicklung entscheidend prägen und mit beeinflussen.

Moderatorin: Es ist also teilweise angeboren, kann sich aber auch entwickeln. Habe ich das richtig verstanden?

Dr. Peiler: Was man hat, ist eine genetisch bedingte, erhöhte Angstbereitschaft. Das liegt einerseits an den Genen selbst, die man von seinen Eltern und Vorfahren geerbt hat. Andererseits spielen auch Umwelteinflüsse eine Rolle. Das ist der Bereich der Epigenetik: Umwelteinflüsse bewirken, dass ganz bestimmte Gene ausgebildet werden (oder eben auch nicht), die eine grosse Rolle bei der Entwicklung von Angststörungen spielen.

Das heisst: Eine ängstliche Mutter kann über ihre Genetik die erhöhte Angstbereitschaft auf ihr Kind übertragen. Was es aber immer braucht, sind angstgenerierende Faktoren, die allerdings sehr unterschiedlich sein können. Wenn die erhöhte Angstbereitschaft zusammenfällt mit traumatischen Erfahrungen in der Kindheit, mit einem angstbetonten Erziehungsstil der Eltern – dazu gehört das Modelllernen, wenn man in der Familie einen ängstlichen Umgang mit Situationen erfährt – belastenden Lebensereignissen in der Schule und Jugend sowie chronischer Stress (ein wichtiger Faktor), dann können diese Punkte dazu führen, dass sich bei der schon vorhandenen Angstbereitschaft eine Angststörung entwickelt.  

Moderatorin: Wie äussert sich eine Angststörung genau? Da geht es vermutlich ja verschiedene Faktoren ...

Dr. Peiler: Es gibt immer vier Ebenen: Eine Ebene ist die Emotion selbst, die Angst. Dann gibt es die gedankliche Ebene, auf der man Situationen mit katastrophisierenden Vorstellungen und Gedanken fehlinterpretiert. Dann gibt es die vegetative, körperliche Ebene, in der der ganze Körper auf verschiedene Art und Weise reagieren kann. Dazu gehören: Herzklopfen, Herzstolpern, beschleunigter Puls, Schweissausbrüche, man fängt an zu zittern, der Mund wird trocken. Es kann auch sein, dass man Atemnot bekommt oder zu schnell atmet, dass man Herzschmerzen spürt oder sogar Durchfall bekommt (der Bauch kann also auch betroffen sein).

Und dann gibt es den psychischen Vorgang, wo man sich sehr unsicher, schwach und benommen fühlt, oder Erlebnisse und Erfahrungen macht, bei denen man das Gefühl hat, man ist nicht mehr man selbst oder tritt aus sich heraus. Manchmal scheint sich auch die aktuelle Situation oder der Raum zu verändern, die Menschen ändern sich und man sieht sie nur noch verzerrt. Es folgt die Angst, verrückt zu werden und auszuflippen – also die Kontrolle über sich selbst zu verlieren – bis hin zur Angst zu sterben. Das sind alles viele verschiedene Reaktionsweisen. Und es gibt auch motorische Reaktionen, dass sich der Muskeltonus anspannt und man regelrecht erstarrt und sich gar nicht mehr bewegen kann.

Moderatorin: Jetzt hast Du gerade gesagt, man fängt an zu zittern, das Herz schlägt schneller – das sind ja sehr akute Sachen. Kann man da auch von einer Panikattacke reden oder greift das zu weit?

Dr. Peiler: Eine Panikattacke ist letztlich eine massive Angstattacke, in der man die Angst als so überwältigend erlebt, dass diese Kette von Reaktionen stattfindet. Letztlich führt das insgesamt zu einem Kontrollverlust, bei dem man selbst nicht mehr adäquat handeln und reagieren kann.

Moderatorin: Ich habe schon von Leuten mit Panikattacken gehört, die sogar zusammengebrochen sind und ambulant behandelt werden mussten. Wie äussert sich ein Zusammenbruch? Ist das wie eine Ohnmacht?

Dr. Peiler: Wenn man in einer Panikattacke kollabiert, ist es üblicherweise nicht so, dass man das gesamte Bewusstsein verliert. Was eben sein kann, ist, dass man – so wie ich es eben ähnlich beschrieben habe – mit dem Gefühl, nicht mehr man selbst zu sein, zu sterben oder durch die scheinbare Veränderung der Umwelt sogenannte dissoziative Symptome zeigt. Es kann dann sehr gut sein, dass man auf dem Boden liegt und scheinbar nicht mehr ansprechbar ist, aber tatsächlich ist man noch nicht ganz weg oder bewusstlos. Das ist dieser Zustand der Erstarrung.

Das sieht von aussen natürlich sehr dramatisch aus, weil man als Aussenstehender denkt, es ist jemand kollabiert, weil er einen Herzinfarkt hat oder etwas ganz Schlimmes, Körperliches passiert ist. Nach dem Transport ins Krankenhaus ist die Panikattacke meistens schon vorüber, obwohl Panikattacken sich durchaus auch über mehrere Stunden hinziehen können. Nicht die ganz akute, die dauert nur ein paar Minuten, aber dieser Zustand der Panik kann sich durchaus länger hinziehen. Aber im Krankenhaus sieht man dann, körperlich ist alles in Ordnung, das EKG passt, der Blutdruck ist vielleicht etwas hoch oder der Puls etwas zu schnell, aber eigentlich ohne schwere körperliche Beeinträchtigungen.

Moderatorin: Wenn sich das alles dann wieder normalisiert hat, werden diese Personen mit Panikattacken und Angststörungen dann auch als Simulanten abgetan?

Dr. Peiler: Als Arzt sollte man sich natürlich vorsehen, so etwas zu tun. Wenn so etwas passiert, sind das ja Zustände, in denen die Person wirklich der festen Überzeugung ist, keine Kontrolle mehr über ihr Leben zu haben. Insofern ist der Vorwurf der Simulation natürlich völlig ungerechtfertigt. Im Krankenhaus ist es aber leider oft so, dass man sich nur auf die körperliche Symptomatik bezieht und sagt: Es ist alles in Ordnung. Das ist natürlich nicht gut für die Patientinnen selbst, weil die dann das Gefühl haben, ich habe offenbar simuliert – was aber gar nicht stimmt.

Das führt dazu, dass Angststörungen – wenn man immer mit diesen körperlichen Symptomen ins Krankenhaus gebracht wird – lange nicht richtig erkannt werden. Patienten erleben diese Angst, können sie aber nicht richtig ausdrücken und verbalisieren. Im Vordergrund stehen dann halt die körperliche Symptomatik und die Angst davor, sterben zu können oder eine schwere Krankheit zu haben. So kann es gut passieren, dass man auch über einen längeren Zeitraum nicht darauf kommt, eine Angst- oder Panikstörung zu haben.

Moderatorin: Wenn man sich in diese Sache hineinsteigert, kann man sich dann auch gewisse physische Symptome „einreden“, also: „Uii, jetzt habe ich da ein Herzstechen, habe ich vielleicht einen Herzinfarkt oder dort habe ich ein Stechen, das könnte doch meine Lunge sein.“ Passiert das Leuten mit einer Angststörung relativ häufig? 

Dr. Peiler: Angststörungen haben in der Regel recht chronische Verläufe. Was sich dabei entwickelt, ist ein Teufelskreis der Angst, bei dem Körpersymptome, die eigentlich ganz normal sind (wie ein Schwitzen beim Treppenhochsteigen oder Herzklopfen nach dem Joggen), völlig falsch interpretiert werden und sich dann starke Ängste entwickeln, weil die Personen meinen, körperlich schwer erkrankt zu sein oder dass etwas Schlimmes passieren wird. Das verstärkt die Angst wiederrum. Am Ende führt es dazu, dass diese Personen alle solche Situationen und Belastungen vermeiden. Das, was sehr stark in einer Angststörung beeinträchtigt, ist die Erwartungsangst. Sie führt dazu, dass diese Menschen viele Situationen vermeiden, in denen Symptome auftreten könnten.

Moderatorin: Angststörungen können akut oder auch chronisch auftreten. Kann man bei einem akuten Anfall die Angstschwelle auch unterdrücken?

Dr. Peiler: Das ist natürlich das Ziel in einer Therapie, die Angstschwelle so hoch wie möglich zu halten. Dafür gibt es zwei Bausteine: Das eine ist, dass ich versuche, meine Grundspannung zu reduzieren, und gleichzeitig lerne, Situationen nicht falsch zu interpretieren und mit der Angst besser umzugehen.

Das gelingt sehr unterschiedlich. Es gibt ja verschiedene Arten von Angsterkrankungen. Bei einigen bleiben die Ängste sehr allgemein. Dazu gehört die generalisierte Angststörung, bei der es nicht zu Panikattacken kommt. Dann gibt es die Panikstörung, bei der Panikattacken auftreten, die keinen äusseren Anlass brauchen. Und schliesslich unterscheidet man spezielle Ängste: Einerseits die sogenannte Agoraphobie, die soziale Phobie – wo es um soziale Ängste geht – spezifische Tierphobien und bestimmte Situationen wie zum Beispiel Höhen. Die beziehen sich aber nur auf diese Situationen.

Moderatorin: Was ist denn eine Agoraphobie?

Dr. Peiler: Eine Agoraphobie ist die Angst vor Situationen (meist in der Öffentlichkeit), in denen die Möglichkeit die Situation zu verlassen – zum Beispiel durch eine Flucht – stark eingeschränkt ist. Agoraphobie kommt ursprünglich vom Namen „agora“ und bedeutet Marktplatz und ist eine Platzangst. Sie bezieht sich auf Situationen, aus denen man nicht so einfach rausgehen kann.

Moderatorin: Also ein Konzert ...

Dr. Peiler: ... genau, ein Konzert, Kino, Strassenbahn, Bus, Zug oder auch öffentliche Plätze. Die Angst ist nicht, dass die Menschen einen dort sehen und beurteilen, sondern die Angst ist, dass man in eine bedrohliche Situation kommen könnte, aus der man nicht mehr herauskommt.

Moderatorin: Und das sind dann die Leute, die dann immer in ihren vier Wänden bleiben.

Dr. Peiler: Das führt oft dazu, dass sie in ihren vier Wänden bleiben oder nur in Begleitung rausgehen können oder Hilfsmittel brauchen. Also dass man immer sein Fahrrad schieben muss, um etwas zu haben, an dem man sich festhält, und viel Absicherung braucht, um sich frei bewegen zu können.

Moderatorin: Würdest Du sagen, dass man Angststörungspatienten vollständig therapieren kann? Oder schaut man, dass die Leute ihr Leben so führen können, dass so etwas wie Normalität entsteht und sie nicht von ihrer Angststörung dominiert werden?

Dr. Peiler: Beides spielt eine Rolle. Grundsätzlich ist die Angststörung behandelbar. Natürlich gibt es dabei prognostische Faktoren. Wenn eine Angststörung sehr früh beginnt, und man schon in der Kindheit und Jugend therapeutisch ansetzt, dann ist die Prognose deutlich besser (vor allem bei sozialen Phobien). Wenn eine Angststörung schon mehrere Jahre besteht und sich schon sehr weit auf verschiedene oder gar alle Situationen ausgebreitet hat, ist es deutlich schwieriger. Hinzu kommt: Die Prognose ist abhängig davon, ob man neben der Angststörung weitere psychische Erkrankungen hat. Dazu zählen besonders eine depressive Erkrankung und Suchterkrankungen – Angstpatienten entwickeln häufiger Süchte. Das sind natürlich Faktoren, die eine Prognose verschlechtern, weil diese Begleiterkrankungen auch mitbehandelt werden müssen.

Prinzipiell kann man Angststörungen einerseits durch Medikation und aber auch besonders gut durch Psychotherapie, Verhaltenstherapie und Expositionsbehandlung mit Angstsituationen behandeln.

Moderatorin: Vielen herzlichen Dank, Peter!