Podcast: ADHS
In der sechsten Folge der Planet-105-Power-Boost-Podcasts spricht Moderatorin Andrea Haefeli mit Dr. Peter Peiler über das Thema ADHS.
Hier finden Sie das komplette Interview zum nachlesen und als MP3-Download.
Moderatorin: Herzlich willkommen zum Podcast Power Boost. Mein Name ist Andrea Haefeli. Bei mir im Studio ist Dr. Peter Peiler. Er ist medizinischer Leiter und Mitglied der Geschäftsleitung in der Frauenklinik Meissenberg in Zug. Hallo Peter!
Dr. Peiler: Hallo Andrea!
Moderatorin: Heute reden wir über das Thema ADHS. Wir haben vorher schon etwas diskutiert, weil es ja ein komplexes Thema ist. ADHS sind vier Buchstaben, aber was genau ist die Definition von ADHS?
Dr. Peiler: ADHS steht für die Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätsstörung. Im Englischen sagt man ADHD, dann ist es die Attention Deficit Hyperactivity Disorder. Das heisst, es gibt drei Leitsymptome von ADHS: Die Aufmerksamkeitsstörung (also: Unaufmerksamkeit), die Hyperaktivität und die Impulsivität. Das sind die Kernsymptome von ADHS.
Moderatorin: Ich habe das Gefühl, dass ADHS in letzter Zeit erst richtig aufgekommen ist. Es sind viele davon betroffen. Es werden auch viele Kinder therapiert. Wenn ich an meine Kindheit denke, also an die 70er und 80er Jahre, gab es das Thema ADHS noch nicht. Ist das eine gesellschaftliche Entwicklung oder hat es ADHS schon immer gegeben?
Dr. Peiler: ADHS hat es schon immer gegeben. Dass es mehr in den Fokus geraten ist, hat natürlich auch mit der Entwicklung der Medizin und Psychiatrie zu tun. Auch die Psychiater haben bis vor 20, 30 Jahren gedacht, ADHS hat man in der Kindheit und im Erwachsenalter nicht mehr. Es ist viele Jahre auch nur als pädagogisches Problem gesehen worden.
ADHS ist allerdings schon vor 150 Jahren vom deutschen Arzt Heinrich Hoffmann beschrieben worden. Der hat den Struwwelpeter mit der Geschichte vom Zappel-Philipp verfasst. Anfang des 20. Jahrhunderts hat dann auch ein englischer Arzt, der für ein Heim schwererziehbarer Jugendlicher zuständig war, dieses Syndrom beschrieben. In den 30er Jahren hat man erstmals die Behandlung von hyperaktiven Kindern mit Stimulanzien publiziert. Das ist also nichts neues. Man kennt es schon lange. Der Punkt ist aber, dass es lange Zeit nicht diagnostiziert worden ist. Wenn wir aber heutzutage über gesellschaftliche Entwicklungen sprechen, muss man eher aufpassen, dass man die Diagnose nicht zu leichtfertig stellt. Auch dass man sie nicht stellt, weil man die Leistung steigern möchte. Man muss schon bei dem Syndrom bleiben und genau differenzieren.
Moderatorin: Du hast es jetzt gerade schon erwähnt, dass viele Leute das Gefühl haben, dass immer mehr Kinder krank sind. Ist das angeboren und nimmt man das als Kind mit ins Erwachsenenalter oder kann ein Mensch als Kind auch ein normales Verhalten zeigen und erst im Erwachsenenalter ein ADHS-Syndrom bekommen?
Dr. Peiler: Also die Diagnose ‘ADHS’ ist daran gebunden, dass man schon als Kind Symptome hatte. Nach neuesten Kriterien muss man vor dem 12. Lebensjahr schon Symptome gehabt haben. Wenn das nicht so war und man ist jetzt 20 oder 30 Jahre alt und hat entsprechende Symptome, dann ist das nicht ADHS, sondern eine andere Störung.
AHDS ist grossteils genetisch bedingt: die Vererbbarkeit liegt bei 75 Prozent. Andere, teilweise organische Ursachen können Zwischenfälle wie eine Viruserkrankung im Rahmen der Schwangerschaft oder ein Sauerstoffmangel bei der Geburt sein. Im Nachhinein ist das schwer nachvollziehbar, weil das nur kleine Ereignisse sind, die man oft gar nicht mitbekommt. Der Hauptanteil entsteht durch Vererbung. Kinder- und Jugendpsychiater berichten häufig, wenn sie die Kinder sehen und die Diagnostik machen, dass sie die Diagnose bei den begleitenden Eltern gleich mitstellen. Bis heute ist es so, dass ganz viele ADHS-Kinder nicht diagnostiziert werden. Es gibt Zahlen, die reden von knapp 90 Prozent der nicht diagnostizierten Kinder. Es gibt daher auch sehr viele, die im Erwachsenenalter ADHS haben – man spricht von der Hälfte aller ADHSler.
Bei erwachsenen ADHSlern verschieben sich die Probleme ein wenig: Die Hyperaktivität nimmt etwas ab. Man ist nicht mehr ganz so zapplig. Auch Bewegungsstürme hat man nicht mehr so stark. Aber die wahnsinnige innere Rastlosigkeit, Unruhe und Getriebenheit ist nach wie vor vorhanden. Bei Erwachsenen sind daher eher so Dinge auffällig wie schlechte Planung, Unpünktlichkeit, das Vergessen von Terminen und Stimmungswechsel. Bei Erwachsenen sieht man dann kurze depressive Episoden, die nur ein paar Tage dauern und dann verschwinden. Oder sie sind nicht stresstolerant, halten Arbeitsbelastungen nicht durch und reagieren zu emotional. Das sind Symptome und Probleme, die eher Erwachsene haben.
Moderatorin: Immer, wenn ich an ADHS denke, dann denke ich an ein Kind und meistens auch an Ritalin.
Dr. Peiler: Ja
Moderatorin: Ich habe das Gefühl – vielleicht liege ich da auch falsch –, dass Ritalin relativ schnell verschrieben wird, vor allem bei Kindern. Ist das so oder würdest Du sagen: nein, eher weniger.
Dr. Peiler: Das kann ich persönlich nicht beurteilen, weil ich keine Kinder behandle. Meine Erfahrung mit Erwachsenen ist sehr unterschiedlich. Wenn ich erwachsene ADHSler diagnostiziere, die als Kinder schon behandelt wurden, dann gibt es verschiedene Aussagen von den Betroffenen dazu.
Die einen sagen: «Ich hab’s dann irgendwann abgesetzt, weil ich sowieso gegen meinen Willen eingenommen habe und es einfach nicht mehr nehmen wollte.» Und es gibt diejenigen, die meinen: «Endlich kann ich es einnehmen, meine Eltern wollten es nicht, weil ihnen aus Angst vor Schäden abgeraten wurde.» Diese Kinder haben dann z. B. Diäten gemacht. Es gibt da sehr unterschiedliche Meinungen.
Wie ich eingangs schon sagte, darf man nicht zu leichtfertig ADHS diagnostizieren und Ritalin verschreiben, weil Ritalin nur ADHSlern hilft. Menschen, die kein ADHS haben, hilft es zwar kurzfristig auch, aufmerksamer zu sein, da es einen stimulierenden Effekt hat. Aber damit einher geht auch ein Gewöhnungseffekt und eine Suchtentwicklung, denn Ritalin zählt zu den Amphetaminen – da könnte man auch Speed nehmen, um den gleichen Effekt zu erzielen. Deshalb darf man es nur ADHSlern geben, denn bei ihnen hat es genau den umgekehrten Effekt: es beruhigt! Die Impulsivität wird geringer, die Hyperaktivität reduziert sich und die Aufmerksamkeit wird natürlich besser.
Moderatorin: Du hast ja selbst gesagt, dass Du keine Kinder behandelst, sondern nur Frauen im Erwachsenenalter. Was hast Du an Alternativen zur Ritalinbehandlung?
Dr. Peiler: Die medikamentöse Behandlung von ADHS ist primär sehr wichtig, um überhaupt eine gute Psychotherapie durchzuführen, ein Durchhaltevermögen zu erreichen und die Überreaktivität zu reduzieren. Es gibt zu Ritalin natürlich schon Alternativen, also andere Medikamente; nicht sehr viele, aber es gibt sie.
Wichtig bei der Behandlung ist aber, dass man nicht einfach nur Pillen verschreibt, sondern sie auch psychotherapeutisch begleitet – insbesondere bei Menschen, bei denen ADHS erst im Erwachsenenalter diagnostiziert wurde. Denn sie kommen primär wegen anderer psychischer Störungen in die Behandlung, etwa wegen Borderline, Sucht und Depression, und erfahren dann, dass sie womöglich immer schon eine Störung hatten. Sie schauen dann auf ihr Leben zurück, auf Erfahrungen von Bestrafungen, Rückschlägen und Versagen (beispielsweise das Sitzenbleiben in der Schule, bei Prüfungen durchfallen, Beziehungsabbrüche, eventuell auch in einem chaotischen Elternhaus) und Ausgrenzungen – alles Dinge, die ADHSler im Laufe ihrer Kindheit und Jugend erleben können. Ein amerikanischer Psychotherapeut beschreibt das als «Book of hurts» («Buch der Verletzungen») – eine wie ich finde sehr passende Beschreibung. Und das muss natürlich behandelt werden, denn die Gabe von Ritalin kann die Emotionalität auch verstärken. Man kann mit Ritalin also auch depressiver werden. In solchen Situationen braucht es viel Halt und therapeutische Begleitung, wenn man sich in der Phase neu erkennt und sich selber anders erlebt und erfährt. Man sieht auf einmal Dinge, die man vorher nicht gesehen hat. Es ist komplex.
Also die Kombination aus Medikation mit Methylphenidat (Ritalin) und guter Psychotherapie ist essenziell wichtig.
Moderatorin: Wie Du gerade gesagt hast, wissen ADHS-Betroffene oft gar nicht, dass sie ADHS haben, obwohl sie etliche Rückschläge hatten und mit Konzentrationsschwächen kämpfen. Haben diese Menschen dann auch ein geringes Selbstwertgefühl?
Dr. Peiler: Ja, das ist häufig so. Dass man also sehr unsicher und ängstlich ist. Andererseits – wir reden hier ja von ADHS wie von einer schweren Krankheit – gibt es natürlich auch wahnsinnig viele ADHSler, die nie grössere psychische Probleme hatten. Ich denke, man sollte ADHS primär nicht als eine so schwere Störung ansehen. Es ist eher eine Variante des Menschseins, bei der vor allem die Impulshemmung nicht so richtig funktioniert. Salopp gesagt, man redet oder handelt erst, bevor man denkt und überrascht sich selbst.
Es gibt auch Typen und Lebensgeschichten, wo genau das gut ist. Bei künstlerischen Berufen wie Schauspieler, Musiker und Designer, also bei Menschen, die etwas erzeugen oder wie Du im Radio oder Fernsehen tätig sind, die in Projekten arbeiten (die schnell abgeschlossen werden können), wo man sich hineinstürzen und kreativ sein kann, dann bringt man die perfekten Eigenschaften mit. In diesen Bereichen kann man damit sehr erfolgreich sein. Wir könnten jetzt nach einigen Popstars schauen, ob sie ADHS haben. Ja, die kommen etwas schräg durchs Leben, aber sie sind verdammt erfolgreich.
Moderatorin: Was ich jetzt noch interessant finde: Wenn man die medikamentöse Behandlung weglässt, würden da auch Yoga und Meditieren helfen?
Dr. Peiler: Ja – gleichzeitig muss man auch überlegen, wie ich meditiere und ins Yoga gehe und ein Achtsamkeitstraining mache, wenn ich beispielsweise eine Sitzunruhe habe. Das fällt dann schwer. Aber man kann natürlich auch Meditationstechniken einsetzen, die mit Bewegung verknüpft sind. Das gibt es und das funktioniert. Eine halbe Stunde ruhig sitzen und an nichts denken, dass ist eher eine sehr grosse Herausforderung. Das kann ein ADHSler kaum schaffen.
Man sieht heute bei ADHSlern vor allem beim Dopamin-Stoffwechsel in den vorderen Hirnbereichen, dass sie Einschränkungen bei den sogenannten exekutiven Funktionen haben – wenn es also darum geht, die Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten, sich auf etwas zu fokussieren und sich nicht ablenken zu lassen. Der Prozess, etwas wahrzunehmen, das zu verarbeiten, einen Plan zu entwickeln und einen Handlungsimpuls zu erzeugen, ist beschleunigt. Die Impuls- und Verhaltenshemmung ist bei ADHSlern derart beeinträchtigt, dass sie dazu führt, dass man zu schnell in seinen Handlungen ist. Und es gibt Probleme im Arbeitsgedächtnis: es fällt schwer, Dinge zwischenzuspeichern – und man verzettelt sich. Das sind Vorgänge, die man neuropsychologisch bei ADHSlern genau erkennen kann.
Moderatorin: Wenn ich unser bisheriges Gespräch betrachte, scheint ADHS nicht therapierbar zu sein. Vereinfacht gesagt, kann man es leichter erträglich machen, aber nicht wirklich therapieren. Oder ist das möglich?
Dr. Peiler: Also wenn man mit «nicht therapierbar» meint, dass man es heilen könnte und anschliessend kein ADHS mehr hat und nicht mehr behandelt werden muss ...
Moderatorin: ... genau ...
Dr. Peiler: ... so kann man es nicht betrachten. Es ist schon so, dass mit zunehmendem Alter die Symptome von ADHS weniger werden – auch wenn sie sich im Erwachsenenleben fortsetzen. Man wird im Laufe des Lebens ruhiger. Andererseits kann auch mit 60 noch genauso chaotisch sein. Ich will jetzt keine Namen nennen. Aber wenn ich Keith Richards sehe, denke ich manchmal, whou, der Mann hat es echt lange geschafft zu überleben.
Moderatorin: Der ist gar nicht mehr sechzig, sondern eher achtzig ...
Dr. Peiler: Ja, aber natürlich kann man ADHS therapieren im Sinne eines «damit sinnvoll umgehen». Es fängt ja schon damit an, wie ich mein Lebensziel gestalte. Ich könnte mich zum Beispiel auf Ausdauersport mit viel Bewegung konzentrieren. Bei der Berufswahl sollte ich mir auf keinen Fall Tätigkeiten aussuchen, bei denen ich 8 Stunden am Tag sitze.
Moderatorin: ... Bibliothekar zum Beispiel ...
Dr. Peiler: ... das ist ein spannender Beruf, aber ein ADHSler ist da nicht so gut aufgehoben. Das sind Punkte, bei denen es nicht darum geht, ADHS zu heilen, sondern zu nutzen. Am Ende geht es darum, dass ich mich in meinem Selbstwert und meiner Identität gut fühle. Und das kann man natürlich behandeln und gut therapieren.
Moderatorin: Vielen herzlichen Dank, Peter, das hat Spass gemacht. Vielen Dank!