Podcast: Bulimie
In der fünften Folge der Planet-105-Power-Boost-Podcasts spricht Moderatorin Andrea Haefeli mit Dr. Peter Peiler über das Thema Bulimie.
Hier finden Sie das komplette Interview zum nachlesen und als MP3-Download.
Moderatorin: Herzlich willkommen zum Podcast Power Boost. Mein Name ist Andrea Haefeli. Bei mir im Studio ist Dr. Peter Peiler. Er ist medizinischer Leiter und Mitglied der Geschäftsleitung in der Frauenklinik Meissenberg in Zug. Hallo Peter!
Dr. Peiler: Hallo Andrea!
Moderatorin: Heute reden wir über das Thema Essstörungen mit dem Fokus Bulimie. Was ist genau der Unterschied zwischen Bulimie und Magersucht?
Dr. Peiler: Der entscheidende Unterschied zwischen Bulimie und Magersucht ist das Gewicht. Magersucht ist ja dadurch definiert, dass man untergewichtig ist, also einen Body-Mass-Index von unter 18,5 hat. Bei der Bulimie ist man in der Regel normalgewichtig. Die Bulimie kann allerdings auch in vielen Fällen auf eine Anorexie (Magersucht) folgen. Beiden Störungen gemeinsam ist, dass sie eine Körperschemastörung haben: Die Betroffenen fühlen sich zu dick. Bei beiden gehen Massnahmen zum Abnehmen einher.
Die Bulimie unterscheidet sich von der Anorexie aber deutlich durch die regelmässigen Essattacken. Die kann es auch bei der Anorexie geben. Neben dem «restriktiven Typ» der Anorexie, bei dem die Betroffenen vor allem Hungern und aktive Massnahmen zur Gewichtsreduktion vornehmen gibt es eben auch den «Purging»-Typ der Anorexie, der sowohl mit Essanfällen einhergeht, als auch mit aktiven Massnahmen zur Gewichtsabnahme. Aber man bleibt im Prinzip dann noch in dieser Phase untergewichtig. Wenn man aus der Anorexie herauskommt, also weil man wieder an Gewicht zunimmt, aber weiterhin dieses Verhalten hat mit anfallsartigen Fressattacken, dann spricht man im Übergang von Bulimie.
Moderatorin: Bei der Bulimie sind die meisten Betroffenen – wie bei der Magersucht – mehrheitlich Frauen?
Dr. Peiler: Das ist richtig, mehrheitlich sind Frauen betroffen, wobei bei den heutigen Schönheitsidealen zunehmend auch Männer auf das Schlankheitsprinzip fokussiert sind.
Moderatorin: Bei der Bulimie ist ja vor allem so, dass es den ewigen Rhythmus von Essen und Erbrechen gibt. Das geht ja nicht nur auf den Magen, sondern auch auf die Zähne und Haare. Ist das für den Körper schlimmer als einfach nur auf Nahrung zu verzichten?
Dr. Peiler: Das grösste körperliche Risiko bei der Bulimie ist, dass man durch das Erbrechen einen akuten Mangel an Kalium im Körper bekommt. Das kann zu gefährlichen Herz-Rhythmus-Störungen und zu Nierenversagen führen. Langfristig ist bei den körperlichen Risiken aber das chronische Untergewicht und das massive Untergewicht im Rahmen der Anorexie gefährlicher.
Sonst hat man bei der Bulimie als körperliche Begleiterkrankungen Entzündungen und Schwellungen der Speicheldrüsen. Karies hast Du ja auch schon genannt. Es gibt aber auch Entzündungen des Rachens, Speiseröhre, Bauchspeicheldrüse und vom Magen – das sind die Hauptprobleme.
Moderatorin: Du hast gerade gesagt, dass man bei der Bulimie nicht sofort an Gewicht abnimmt. Bei der Magersucht merkt man relativ schnell, dass etwas nicht stimmt, weil man abrupt Gewicht verliert. Wie erkennt man als nahestehende Person, dass jemand von Bulimie betroffen ist?
Dr. Peiler: Das als nahestehende Person herauszufinden, ist oftmals gar nicht so leicht, weil es ähnlich wie bei der Magersucht natürlich oft verheimlicht wird. Die Krankheit geht häufig mit Schamgefühlen und Schuldgefühlen einher, insbesondere nach einer bulimischen Attacke wie Heisshunger, Fressen und danach dem Erbrechen.
Oft ist es so, dass Patientinnen und Patienten nicht primär wegen der Bulimie in die Behandlung kommen, sondern wegen psychischer Begleitprobleme. Im Vordergrund steht da natürlich die Depression.
Moderatorin: Man hat also eine gewisse Tendenz zur Depression. Kann sich aus einer Depression denn eine Bulimie entwickeln? Oder würdest Du sogar sagen, dass es im Vorfeld immer eine psychische Krankheit als Auslöser geben muss?
Dr. Peiler: Immer sicherlich nicht. Aber der Punkt ist, wenn man in diesen Teufelskreis hineinkommt und mehrmals die Woche (mindestens zweimal) so eine bulimische Attacke entwickelt, dann hat das wie bei anderen Störungen (Trauma, Borderline) damit zu tun, dass man Probleme hat, seine Emotionen zu regulieren und mit schwierigen Situationen umzugehen. So wird diese Essattacke zu einer Art der Stressbewältigung und baut den emotionalen Druck ab. Das ist der Hauptmechanismus.
Das kann in der Folge oder auch primär mit einer Depressivität einhergehen, auch in einem jungen Alter. Möglich sind auch Angststörungen wie eine soziale Phobie; die kann damit assoziiert sein. Die Bulimie hat ja auch zu tun mit einem verminderten Selbstwert, der sich dann in allen möglichen Lebenssituationen zeigt.
Moderatorin: Bulimie ist für mich etwas Extremes und Unnatürliches, auch schwierig zu verstehen, weil man erst isst und dann wieder erbricht und das Erbrechen ja erzwingt. Oder gibt es eine Bulimie, bei der der Körper selbst mit Erbrechen reagiert?
Dr. Peiler: Es ist ein Teufelskreis, ein Mechanismus, der sich automatisiert. Das ist letztlich eine Lernerfahrung des Körpers und des vegetativen Systems. Wenn man es über einen längeren Zeitraum praktiziert, dann wird das zu einem ritualisierten Ablauf. Das fängt damit an, dass man sich vorbereitet, weil man weiss, dass die nächste Stresssituation und die nächste Attacke kommt. Der Kühlschrank ist dann schon voll und schliesslich passiert es. Häufig gibt es fixe Rituale, die man befolgt, und schliesslich kommt der Reflex des Erbrechens.
Ich glaube auch, dass es irgendwann so weit ist, dass man gar nicht mehr den Finger in den Hals stecken muss und der Würgereflex von allein entsteht.
Moderatorin: Kann man die Bulimie als Individuum selbst vernünftig therapieren oder sollte man zu einem Arzt gehen? Also man muss für sich selbst ja erst einmal feststellen, dass man überhaupt eine Bulimie hat. Kann man Bulimie selbst therapieren oder würdest du professionelle Hilfe empfehlen?
Dr. Peiler: Auch bei der Bulimie braucht es eine professionelle Hilfe – allein um die Einsicht zu gewinnen, dass man ein Problem hat und dass es auch ein ernstes Problem ist (nicht nur ein falsches schamhaftes Verhalten). Es geht im ersten Schritt einer Behandlung darum, zu lernen und zu akzeptieren, dass man ein Problem hat und dass es komplex sein kann. Das hat viel mit Akzeptanz von Erlebnissen (auch aus der Vergangenheit) zu tun. Die Bulimie ist ja ein Mechanismus: Einerseits dient er der Vermeidung von unangenehmen Gefühlen – insbesondere, wenn ich das ritualisiert durchführe –, andererseits auch als Flucht (man spricht von Escape) aus einer Stresssituation. Er ist ein bewährter Weg, kurzfristig Stress abzubauen. Da fällt es sicher schwer, diese Einsicht ohne fremde, professionelle Hilfe zu gewinnen.
Ein anderer wichtiger Punkt, um davon loszukommen, ist der Aspekt der Selbstverantwortung: Ich musst zuerst lernen: Ja, ich habe dieses Problem und eigentlich habe ich es nicht verschuldet. Es gibt viele Ursachen, dass ich heute dieses Problem habe. Aber ich bin für mich selbst verantwortlich und habe die Möglichkeit, selbst da rauszukommen. Um diesen Schritt machen zu können, braucht es professionelle Unterstützung.
Moderatorin: Du hast vorhin schon erwähnt, dass die Bulimie oft mit einer Depression zusammen auftritt. Wird bei einer solchen Therapie dann nur der psychische Aspekt analysiert, oder wird auch ein Ernährungsberater hinzugezogen, der sich das Essen genauer anschaut. Wie sieht so eine Therapie genau aus?
Dr. Peiler: Die Therapie hat – ähnlich wie bei einer Magersucht – verschiedene Aspekte. Am Anfang steht die sogenannte Psychoedukation, um zu verstehen, dass ich ein Problem habe und wie ich es für mich definieren kann. Der Aufbau von Motivation und auch das Training von gesundem Essverhalten ist wichtig; zu schauen, welche Nahrung nehme ich denn auf. Es geht auch darum, Nahrung bewusst und achtsam zu essen und einen neuen Rhythmus zu entwickeln.
Alleine geht das nicht. Man muss das kombinieren mit der Behandlung, die sehr auf die Emotion fokussiert. Es ist auch wichtig, sich mit den Fragen zu beschäftigen: Was genau sind meine Werte, was sind meine Ziele, warum will ich überhaupt meine Bulimie aufgeben? Wenn ich es dann schaffe, eine Selbstverantwortung aufzubauen, wird das wiederum verknüpft mit einem Skills-Training, um die Alternativen zu bulimischen Attacken in Stresssituationen zu erarbeiten. Ausserdem wichtig ist die Körpertherapie: wie kann ich meine Körperwahrnehmung gesund entwickeln, Selbstwert für meinen Körper aufbauen. Und letztlich geht es um Interaktion und die interpersonellen Kompetenzen, Kommunikation mit anderen Menschen und solche Dinge. Also ein Blumenstrauss von verschiedenen Dingen, die man abstufen kann, die einhergehen mit dynamischen variablen Hierarchien und Zielsetzungen der Therapie.
Moderatorin: Sind Personen, die unter Bulimie leiden, empfänglicher für eine Therapie als beispielweise Magersüchtige und ist dadurch die Rückfallquote geringer?
Dr. Peiler: Nach meiner Erfahrung ist es mit bulimischen Patientinnen eher leichter, ein offenes und vertrauensvolles therapeutisches Verhältnis zu finden. Magersüchtige Patientinnen sind ja häufig sehr kontrollierende, verschlossene und zurückhaltende Charaktere. Bulimische Patienten sind häufiger von der Persönlichkeit her extrovertierter, impulsiver und auf diese Weise leichter erreichbar.
Moderatorin: Auch wenn es erst einmal schlimm klingt, möchte ich es dennoch fragen: Kann man bei einem Teenie-Mädchen auch von einer Teenie-Phase reden?
Dr. Peiler: Für die Teenie-Zeit gilt: Sie ist die anstrengendste Phase im Leben – das ist auch biologisch so. Es ist die Zeit, in der das Gehirn eine deutliche Überproduktion erfährt und stark im Aufruhr ist. Erst in der späteren Adoleszenz und den frühen 20er Jahren eliminiert es vieles, was man dann nicht mehr braucht, und irgendwann ist man dann endlich erwachsen. Aber in der Teenager-Phase geht es drunter und drüber im eigenen Gehirn.
In dem Rahmen kann es natürlich auch Phasen geben, in denen man so Dinge wie Selbstschädigung zum Stressabbau – sei es durch bulimisches Verhalten, Selbstverletzung oder auch Drogenkonsum – ausprobiert. Das heisst aber nicht, dass man dann in der Folge eine psychische Störung entwickeln muss. Deshalb definiert man Zeitkriterien und Häufigkeiten, wie oft so eine Attacke auftritt. Wenn das nur einmal in der Woche oder in einem Monat passiert, dann ist das noch lange keine Bulimie. Darunter liegt diese Emotionsproblematik, das ist das Entscheidende.
Moderatorin: Vielen herzlichen Dank für das sehr interessante Gespräch und fürs Kommen! Danke Dir!