Podcast: Gender Dysphorie

In der achten Folge der Planet-105-Power-Boost-Podcasts spricht Moderatorin Andrea Haefeli mit Dr. Peter Peiler über das Thema Gender Dysphorie.


Hier finden Sie das komplette Interview zum nachlesen und als MP3-Download.

Moderatorin: Willkommen zum Podcast Power Boost. Mein Name ist Andrea Haefeli. Bei mir im Studio ist Dr. Peter Peiler. Er ist medizinischer Leiter und Mitglied der Geschäftsleitung in der Frauenklinik Meissenberg in Zug. Hallo Peter!

Dr. Peiler: Hallo Andrea!

Moderatorin: Heute reden wir über ein Thema, dass uns in der Gesellschaft stark beschäftigt. Es geht um die LGBT-Bewegung (englisch für Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender, also Lesbisch, Schwul, Bisexuell und Transgender), wobei wir jetzt aber den Fokus auf Geschlechts-Dysphorie setzen. Was genau versteht man unter eine Geschlechts-Dysphorie?

Dr. Peiler: Der Begriff ist meistens assoziiert mit dem Begriff Transgender. Das bedeutet, es geht um Menschen, die sich in ihrem Geschlecht inkongruent fühlen. Sie fühlen sich in ihrem Geschlecht fremd und sind der Überzeugung, dass sie eigentlich zum anderen Geschlecht gehören – sie erleben das so.

Moderatorin: Ist Dysphorie nicht ein negatives Wort? Wenn ich persönlich das Gefühl habe, im falschen Körper geboren zu sein, ist das dann nicht ein Fehler der Natur und keine psychische Störung im eigentlichen Sinn?

Dr. Peiler: Der Begriff Dysphorie ist jetzt in den neuen Klassifikationen eingeführt worden, um die Betonung darauf zu legen, das aus diesem Problem (oder dieser Variante – so wird das heutzutage gesehen) natürlich ein Leiden entstehen kann, wenn man sich im falschen geschlechtlichen Körper fühlt. Deswegen benutzt man den Begriff Dysphorie im Sinne eines insbesondere emotionalen Leidens.

Moderatorin: Man ist also in einem fremden Körper. Wenn ich als junges Mädchen aber mit Playmobil spiele oder ein Junge mit einer Barbiepuppe – ich habe ja auch mal das Gefühl gehabt, es wäre cool, ein Junge zu sein – heißt das dann ja nicht automatisch, dass man Gender-Dysphorie hat. Kann man auch – mal dumm gefragt – auch von einer Phase reden?

Dr. Peiler: Gut, es kann natürlich in der Entwicklung sein, dass man phasenhaft sowas durchlebt – in der Kindheit oder der Adoleszenz –, dass man das Gefühl bekommt: ich möchte eigentlich im anderen Geschlecht leben. Hierbei geht es allerdings um Menschen, die ganz oft (oder von Anfang an) sich eher wie im anderen Geschlecht fühlen und sich schon recht früh so verhalten oder den Wunsch haben, die Rolle im anderen Geschlecht zu leben.

Ein wichtiger Aspekt ist dabei: Es geht nicht um eine Störung, sondern es geht darum, dass es sicherlich viele Varianten im Rahmen der Geschlechtsidentität gibt. Geschlecht wird ja nicht nur genetisch definiert durch das XY-Chromosom. Es gibt auch andere Chromosomen, die an der Ausbildung der für Männer und Frauen typischen Geschlechts- und Persönlichkeitsmerkmalen beteiligt sind. Es geht dabei um die hormonelle Verteilung im Körper, also die Sexualhormone, die den Körper ausdifferenzieren. Hinzu kommt dabei auch eine psychische Entwicklung, die bestimmten Einflüssen unterliegt. Da gab es auch schon lange Diskussionen, als man noch von einer Störung sprach, ob das vielleicht durch Konflikte oder konflikthafte oder problematische Bindungen (auch zu den Eltern) beeinflusst wird. Das konnte man aber nie empirisch belegen.

Wenn man mit Transgender-Menschen spricht, dann ist es sehr authentisch, wenn sie berichten, dass sie sich im falschen Körper oder im falschen Geschlecht fühlen. Darüber hinaus hat das Ganze auch wenig mit Sexualität zu tun, sondern mit der Identität im Rahmen des Geschlechtes.

Moderatorin: Als Betroffene stelle ich mir das relativ schwierig vor. Es gibt ja auch Transvestiten, also Männer, die sich als Frauen verkleiden, bis hin zu Dragqueens (als Kunstform). Wie kann also ein Betroffener sagen, „ich habe wirklich eine Gender-Dysphorie und nicht nur das Bedürfnis, mich als Frau zu verkleiden?“ Denn bei einem Transvestiten ist es ja so, dass er nach wie vor ein Mann ist, und wenn er sich auszieht, weiß er ja, dass er definitiv im falschen Körper geboren ist ...

Dr. Peiler: Du hast jetzt schon einen wichtigen Unterschied genannt. Transvestiten sind Menschen, die kein Problem mit der Geschlechtsidentität haben. Sie haben den Wunsch, mal ein anderes Geschlecht zu leben, bleiben aber letztlich in ihrem Geschlecht.
Transgender-Menschen spüren insgesamt in sich, dass sie wirklich den Wunsch haben, zum anderen Geschlecht dazu zu gehören und fühlen sich in ihrem Geschlecht generell unwohl. Dabei gibt es auch für viele betroffene Menschen Fragezeichen: Ist das wirklich so? Das ist dann auch der Grund, warum sie sich beispielsweise an Therapeuten wenden, um es herauszufinden.

Moderatorin: Wenn der Punkt kommt, dass zum Beispiel ein Junge gegenüber der Mama behauptet, ich bin ein Mädchen. Da muss man doch sicher aufpassen, weil eine Operation ja auch ein heftiger Eingriff ist. Bei Frauen werden ja nicht nur die Brüste, sondern auch die Gebärmutter entfernt. Wie geht man da als Therapeut vor? Wir kann man sich wirklich sicher sein, dass das Kind oder der Jugendliche schon bereit ist, eine Geschlechteranpassungen vornehmen zu lassen?

Dr. Peiler: Die Herangehensweise ist in erster Linie, dass man eine spezielle und genaue Anamnese macht – also ein Gespräch über die ganze Lebensentwicklung und psychische Entwicklung führt. Man schaut sich gemeinsam die psycho-sexuelle Entwicklung an, gerade auch in Bezug auf Identität, Begehren oder auch auf die Geschlechterrolle. In Bezug auf die Pubertät wird gefragt: Wie hat man die Veränderung erlebt oder auch verarbeitet. Gibt es ganz spezielle Erinnerungen an das Anderssein in der bisherigen Lebensgeschichte.

Dadurch entsteht das Gesamtbild, an dem man festmachen kann, wie es wirklich um die Person steht. Gleichzeitig muss man auch abgrenzen und differenzieren: Es gibt auch psychische Krankheitsbilder, die damit einhergehen können, aber eine ganz andere Ursache haben und dieser Aspekt nur ein Symptom ist. Dann hat man eben nicht ein Transgender-Problem. Bei Psychosen und schweren dissoziativen Störungen beispielsweise kann es sein, dass man nur zeitweilig in so eine andere Identität schlüpft. Das hat natürlich zur Folge, dass man das ganz anders behandeln muss. Das hat dann nichts mit Transgender zu tun.

Ob sich daraus dann eine Transitionsbehandlung entwickelt, ist am Anfang noch offen. Es kann sein, dass man sich entscheidet, auch körperlich sein Geschlecht zu wechseln. Es kann aber auch sein, dass man den Wunsch danach gar nicht hat. Man möchte zwar im anderen Geschlecht leben, aber seinen Körper dafür nicht verändern – auch das gibt es.

Die Therapie wird dann eine Begleitung in diesem Prozess der Identitätsdefinition und -findung. Wichtig ist ja, aus dieser Dysphorie, also diesem Leid- und Unglücklichsein-Zustand herauszukommen. Wer beispielsweise in einem Umfeld lebt, das sehr tolerant ist und in dem man im vorhandenen Körper das andere Geschlecht ungezwungen leben kann, dann ist es vielleicht gar nicht nötig, das Geschlecht zu ändern.

Andererseits kann es auch sein, dass das ein ganz wichtiger therapeutischer Schritt ist, um erstmal wieder aus diesem Leidensdruck herauszukommen. Aber das ist dann sehr individuell.

Moderatorin: Du hast ja gerade gesagt, die Geschlechts-Dysphorie kann man im eigentlichen Sinne nicht therapieren. Es geht mehr darum, die Menschen zu begleiten und ihnen ein besseres Gefühl zu vermitteln. Ihnen zu zeigen, dass sie das, was sie machen, richtig ist und dass das auch natürlich ist.

Dr. Peiler: Ja. Und auch den Prozess weiter zu begleiten. Auch zu schauen, wie ist jetzt die Reaktion auf diesen Transitionsprozess und die Geschlechtsumwandlung. Das kann man übrigens auch unvollständig machen, also nur ganz bestimmte Geschlechtsmerkmale zu verändern. Zum Beispiel nur die Brüste wegzuoperieren, ohne sich einen Penis machen zu lassen oder umgekehrt, sich den Penis entfernen zu lassen, ohne sich Brüste machen zu lassen – da gibt es alle möglichen Varianten.

Auf diese Veränderungen gibt es wiederum verschiedene Reaktionen. Denn es ist ja wieder ein Hineinwachsen in eine neue Situation, wenn man das gemacht hat. Das gilt es dann auch weiter zu begleiten.

Moderatorin: Die Geschlechtsumwandlung wird dann ja auch hormonell behandelt. Gibt es auch Fälle, wo die Leute negativ auf die hormonelle Behandlung reagieren? Die also nicht damit klarkommen, wie sich der Körper verändert und sie wieder zurückwollen.

Dr. Peiler: Ja, das kann durchaus passieren. Wobei das dann nicht bedeutet, dass es eine Fehldiagnose war. Da muss man schon aufpassen. Die Hormonbehandlung hat einen Einfluss auf die Psyche – der Körper ändert sich ja auch – und das kann schon sehr irritieren. Das Ganze ist ja so etwas wie ein Bewusstwerdungsprozess: Man erlebt sich extrem intensiv und das ist eventuell irritierend, nicht nur für andere, sondern auch für einen selbst.

Moderatorin: Ich stelle mir das als Frau sehr schwierig vor – bei mir spinnen ja einmal im Monat auch die Hormone – wenn da die verschiedenen Hormone auf einen reinprasseln und man Emotionen hat, die man überhaupt nicht mehr kontrollieren kann.

Dr. Peiler: Ja, das stimmt.

Moderatorin: In der Schweiz sind wir ja vergleichsweise offen und tolerant. Aber zum Beispiel im arabischen Raum dürfte die Suizid-Rate doch viel höher sein, oder?

Dr. Peiler: Die Suizid-Rate ist generell bei Transgender-Menschen erhöht im Vergleich zur normalen Bevölkerung – wegen dieses Leidens. Natürlich haben die gesellschaftlichen Normen in Bezug auf die Geschlechtsrolle, die man dann einzunehmen hat, eine große Bedeutung.

Moderatorin: In diesem Gespräch haben wir ja jetzt gesehen, dass es absolut okay ist, wenn man im falschen Körper geboren ist. Und dass es wichtig ist, dass man als Eltern möglichst schnell reagiert und dem Kind helfen kann. Wann sollten Eltern reagieren und professionelle Hilfe suchen?

Dr. Peiler: Wie Eltern reagieren, ist immer so eine Sache. Die Eltern leben ja auch in einer Gesellschaft mit bestimmten Vorstellungen zu den zwei Geschlechtern – und dazwischen gibt es meist nichts. Das Schöne ist ja, dass die Gesellschaft viel toleranter geworden ist. Wenn Eltern das bei ihrem Kind beobachten und dafür offen sind, also nicht den Eindruck haben, dass hier etwas falsch läuft (also weil ich es falsch erziehe oder etwas bei dem Kind nicht stimmt), sondern sehen, dass das Kind immer schon in das andere Geschlecht passen könnte, darüber unglücklich war und das auch mehrfach geäußert hat, macht es Sinn, Psychologen darauf anzusprechen.

Bei Kindern äußert sich das oft so, dass ein Mädchen mit den Jungen spielen will oder nicht ins Ballett gehen möchten, sondern lieber Fussball spielen will. Es kann auch sein, dass sich das Kind immer wieder mit den Kleidern des anderen Geschlechts kleidet. Früher haben Eltern dann häufiger mit Bestrafung sogar reagiert („sowas macht man nicht, das ist unmoralisch“). Aber für Eltern, die die Toleranz haben, sowas beobachten und mitbekommen, ist es auf jeden Fall sinnvoll, sich psychologische und psychotherapeutische Betreuung zu holen. Es gibt ja auch viele Spezialisten für Kinder und Jugendliche.

Dann kann man – und das ist wichtig in diesem Therapie- und Bewusstwerdungsprozess – das direkte familiäre Umfeld einbinden. Es ist ja für alle gemeinsam eine Entwicklung, an die man sich gewöhnen muss. Es ist ja auch nicht schlimm, wenn man das – auch als Eltern – erstmal als fremdartig erlebt, auch Zweifel und Fragen hat. Dafür denke ich, dass es gut ist, wenn man gemeinsam so einen Prozess durchläuft und einbezogen wird in die Behandlung.

Hinzuzufügen wäre auch noch, dass auch die Psychiatrie eine Entwicklung hinter sich hat. Bis vor wenigen Jahren war es ja noch als eine Störung klassifiziert. Es hieß noch Transsexualität und musste durch Gutachten bestätigt werden. Heutzutage sehen wir es nicht mehr so, was gut ist. Das läuft parallel zu einem allgemeingesellschaftlichen, jahrzehntelangen Prozess der Entstigmatisierung der Geschlechtsidentität und sexuellen Orientierung.

Es gibt beispielsweise die Queer-Bewegung, in der sich viele Menschen wiederfinden. Da gehören die Transsexuellen und Transgender-Menschen dazu, aber auch Bisexuelle, Homosexuelle, Pansexuelle und asexuelle Menschen. Die haben die Gemeinsamkeit, dass sie irgendwie queer sind. Queer ist ein Wort, das ursprünglich abwertend war und heutzutage schon fast so etwas wie ein Qualitätsmerkmal ist. Man kann heute mit Stolz sagen: ich bin queer und passe nicht in die konventionelle Zweigeschlechtlichkeit.

Ich finde es gut, dass sich die Gesellschaft in dieser Weise weiterentwickelt und das Augenmerk auf die emotionale Entwicklung legt und nicht so sehr auf die Details, die scheinbar von der Natur gezwungenermaßen vorgegeben sein müssen. Denn es ist nicht so: es gibt Varianten. Wenn man ehrlich ist: Auch bei „normalen“ Menschen, die sich in ihrem Geschlecht zu Hause fühlen, gibt es Unterschiede. Es gibt Männer, die viele weibliche Züge haben, Frauen mit vielen maskulinen Zügen. Es ist deshalb gut, wenn unsere Gesellschaft so tolerant ist.

Es muss für den einzelnen stimmig sein. Wenn das nicht so ist, ist es nicht unbedingt von Nutzen, es in Frage zu stellen. Man sollte sich fragen: Was braucht es, was heißt das, wie sind die Emotionen, wie ist das Selbsterleben? Und das gilt es zu unterstützen und dabei zu helfen. Und nicht die Frage zu stellen: Welches Geschlecht bist Du denn jetzt? Denn für den Einzelnen hat das etwas Entwertendes und Infragestellendes, ob er doch „falsch“ ist.

Moderatorin: Vielen herzlichen Dank und danke, dass Du bei uns warst!