Podcast: Trauma

In der vierten Folge der Planet-105-Power-Boost-Podcasts spricht Moderatorin Andrea Haefeli mit Dr. Peter Peiler über das Thema Trauma.


Hier finden Sie das komplette Interview zum nachlesen und als MP3-Download.

Moderatorin: Willkommen zum Podcast Power Boost. Mein Name ist Andrea Haefeli. Bei mir im Studio ist Dr. Peter Peiler. Er ist medizinischer Leiter und Mitglied der Geschäftsleitung in der Frauenklinik Meissenberg in Zug. Hallo Peter!

Dr. Peiler: Hallo Andrea!

Moderatorin: Heute reden wir über das Thema Trauma. Das ist ja ein unglaublich weites Feld. Es gibt diverse Traumata, interpersonale Trauma, akzidentelle Trauma. Wie kann man die denn genau definieren?

Dr. Peiler: Ein Trauma wird als eine schwere, katastrophale Belastungssituation, in der man eine vitale Bedrohung erlebt und Angst um das eigene Leben oder die eigene körperliche und psychische Integrität hat. Wir unterscheiden verschiedene Typen von Traumata: Das Typ-1-Trauma und das Typ-2-Trauma.
Das Typ-1-Trauma sind einzelne Ereignisse. Das können – wie du es geschildert hast – sogenannte akzidentelle Ereignisse sein, zum Beispiel Naturkatastrophen, Überfälle oder auch Unfälle. Wichtig dabei: Es muss nicht nur unbedingt die eigene Person betreffen, es kann auch sein, dass man nur Zeuge ist oder eine traumatische Situation miterlebt. Oder sogar, wenn man gar nicht bei dem Trauma dabei ist und ein ganz enger Angehöriger darunter leidet oder verstirbt. Auch dabei kann es zu einer traumatischen Reaktion kommen.

Typ-2-Traumata sind etwas komplexer. Sie gehen über längere Zeiträume oder sind wiederholte Traumata. In unserer Gesellschaft sind das zum Beispiel Vorfälle, dass man in der Kindheit immer wieder traumatische Situationen erlebt hat, wie etwa körperliche Verletzungen oder auch sexuelle Missbrauchserfahrungen. Auch wenn wir an die vielen Migranten denken, die mit uns in der Schweiz leben: Das sind Menschen, die einen Krieg, eventuell Folter und das Leben in Lagern miterlebt haben.

Moderatorin: Du sagst ja, dass man auch ein Trauma bekommen kann, wenn man nur bei einem Unfall zuschaut. Ist es eigentlich möglich, dass jeder Mensch ein Trauma erleiden kann? Oder ist das individuell unterschiedlich, je nachdem wie stark eine Person mental ist?

Dr. Peiler: Grundsätzlich ist es so, dass jeder von uns ein Trauma erleben kann. Und tatsächlich erleben viele Menschen im Laufe ihres Lebens eine traumatische Situation. Ob man auf dieses Erlebnis dann mit einer richtigen Traumafolgestörung reagiert, ist natürlich von gewissen Voraussetzungen abhängig, die schon vor dem Trauma bestanden. Es gibt verschiedene Einflussfaktoren: Zum einen gibt es eine gewisse genetische Disposition. Die wird verursacht durch die Genetik selbst und durch Ereignisse vor, während und nach der Geburt, die damals schon belastend waren. Oder Stresssituation in der frühen Kindheit. Frühere Traumatisierungserfahrungen sind beispielsweise Trennungs- oder problematische Bindungserfahrungen. Das sind Einflussfaktoren, die eine chronische Stressreaktion hervorrufen können. Wenn man das erlebt hat, prägen sie schon früh die Hirnphysiologie und führen zu Reaktionsmustern, um mit Belastungssituationen umzugehen. Das sind Nachteile, wenn es darum geht, ein erlebtes Trauma zu verarbeiten.

Moderatorin: Du hast gerade die Genetik erwähnt: Kann man das – blöd gesagt – auch vererben? Also in dem Sinne, dass wenn eine Mutter ein Trauma hat, egal ob das jetzt sexueller Missbrauch oder Gewalt war, sie das auf das Kind projizieren und so das Trauma weitergeben kann?

Dr. Peiler: Das Trauma selbst natürlich nicht, aber die Stressbelastung und die Bewältigung der aktuellen Lebenssituation der Mutter hat Einfluss auf das Kind. Wenn Sie selbst verletzbar ist, kann das in der Interaktion mit dem Kind grossen Einfluss haben. Und es gibt in der Tat sogenannte epigenetische Prozesse, die darüber entscheiden, welche Gene zum Ausdruck kommen und auf das Kind übertragen werden können. Das ist dann allerdings nicht endgültig, die Entwicklung des Kindes kann das natürlich beeinflussen.

Moderatorin: Wie äussert sich jetzt das Trauma? Man redet ja manchmal von einem Triggerpunkt. Es kann ja sein, dass man ein Trauma hat, das aber jahrelang verdrängt hat. Dann aber passiert auf einmal etwas, und das Trauma kommt hoch. Wie merke ich das und wie geht man am besten damit um?

Dr. Peiler: Wenn das passiert, man also einmal oder mehrfach traumatische Situationen wie eine Misshandlung in der Kindheit erlebt hat und sie verdrängt hat oder Strategien entwickelt, um das vor sich selbst zu verleugnen, dann kann es natürlich nach Jahren passieren, dass man in einer ähnlichen Situation mit einer erheblichen Stressreaktion reagiert. Anschliessend entstehen Bilder und Erinnerungsfragmente, die gekoppelt sind an eine extrem starke Emotionalität und die zu einer posttraumatischen Belastungsstörung führen. Diese posttraumatische Belastungsstörungen entstehen in der Regel in den ersten Wochen und Monaten nach einem erlebten Trauma. Das was du jetzt beschrieben hast, ist eine Traumafolgestörung mit einem späten Beginn; das kann auch erst nach vielen Jahren auftreten. Wenn man beispielsweise einen Krieg erlebt hat, kann es durchaus vorkommen, dass man erst nach Jahrzehnten plötzlich Reaktionen zeigt.

Moderatorin: Ich kann mir jetzt vorstellen, dass mancher beim Trauma meint, er könne gewisse Sachen selbst therapieren. Aber ich denke, ein Trauma ist eine Sache, bei der man wirklich einen Experten braucht, oder?

Dr. Peiler: Ja, Traumastörung ist ein Fall, bei dem man einen Experten braucht. Lange Zeit gab es die sogenannte Debriefing-Strategie, bei der man nach einem erlebten Trauma direkt mit der therapeutischen Verarbeitung des Erlebten begonnen hat. Es hat sich aber gezeigt, dass das Wichtigste nach einem Trauma ist, dass man Sicherheit herstellt, beruhigend auf die Person einwirkt und einen engen psychologischen Kontakt hält. So kann der Therapeut beobachten, ob sich später eine Traumafolgestörung entwickelt. Im ersten Moment ist also die Stressreduktion wichtig.

Moderatorin: Stichwort Stressreduktion – Therapieformen gibt es dafür ja diverse. Man sagt ja gerne, wenn man vom Pferd gefallen ist, sollte man schnell wieder aufsteigen. Konfrontiert man bei einem Trauma die Patienten mit dem Trauma oder versucht man die Konfrontation zu vermeiden und einen Verdrängungsmechanismus zu aktivieren? Wie kann man sich das vorstellen?

Dr. Peiler: Das muss ich ein wenig ausholen: Ein Kernstück der Traumatherapie ist die Exposition (also das Konfrontieren mit dem Trauma). Wichtig ist die Erkenntnis, dass durch die Stressreaktion eine Aktivierung des emotionalen Gedächtnisses erfolgt. Das ist ein Bereich im Gehirn, in dem einem viele Dinge nicht so bewusst sind, dass man sie ins konkrete Gedächtnis übernehmen könnte. Das heisst, es gibt nur Fetzen, Fragmente von Erinnerungen und Wahrnehmungen, die wir in der Klinik-Therapie Intrusionen nennen. Ein bekanntes Beispiel sind Flashbacks. Das sind Phänomene, die eine Dysregulation meines Regulationssystems ausdrücken. Dann gelingt es meinem Bewusstsein nicht mehr, regulierend auf meine emotionale Reaktion einzugreifen.

In der Therapie gibt es verschiedene Schritte, um langfristig das Erlebte wieder ins Bewusstsein zu holen. Es geht also nicht um die Verdrängung, sondern therapeutisch in das Trauma hineinzugehen, um die aktuelle Situation emotional zu verändern und einen Gegenwartsbezug zu heute herzustellen. Gleichzeitig gilt es, das erlebte Trauma in mein konkretes deklaratives Gedächtnis zu integrieren, um zwischen ‚damals‘ und ‚heute‘ unterscheiden zu können. So kann ich wieder eine Kontrolle über meine Emotionen zurückgewinnen, die sich auf das Hier und Jetzt beziehen und nicht immer als Kurzschluss auf die früher erlebte Situation.

Und dann gibt es bestimmte Phasen in der Therapie, in denen es am Anfang um die Stabilisierung geht. Es ist wichtig, bestimmte Faktoren vorher therapeutisch anzugehen: Suizidalität ist wichtig, aber auch wenn man nach einem Trauma eine hohe Dissoziationsneigung mit starken Intrusionen hat. Dazu gehört auch Fremderleben, also dass man sich nicht im eigenen Körper fühlt, dass sich die Umwelt in Stresssituation ändert, dass man nicht mehr ansprechbar ist. Das sind alles Phänomene, die man bei Dissoziation von aussen erkennen kann.

Wenn so etwas auftritt, muss man vorher für Stabilisierung sorgen. Und es geht zu Anfang auch um Aufklärung. Therapeut und Patient sprechen darüber, was bei einem Trauma im Gehirn und der Psyche passiert. Es geht dann darum, Ziele und Werte zu bestimmen. Der Patient soll lernen darauf zu schauen, was ihm wichtig ist, in seiner Persönlichkeit, in seinem Leben: Wohin will er überhaupt, was gibt es für Hindernisse, welche hinderliche Gedanken hat er, die ihm Stress verursachen.

Und dann kommt irgendwann die Entscheidung, dass man eine Expositionsbehandlung startet. Dafür gibt es verschiedene Techniken: Häufig sind sogenannte Imaginationsverfahren und imaginative Therapien, in denen man in eine Traumasituation zurückkehrt und diese wiedererlebt, aber auch neu integriert. In manchen Verfahren verändert man in der Imagination auch die erlebte Situation.

Moderatorin: Meinst Du mit Imagination eine Hypnose?

Dr. Peiler: Nein, Hypnose ist es im eigentlichen Sinn nicht, auch wenn es ein hypnotherapeutisches Verfahren ist. Man ist die ganze Zeit bei klarem Bewusstsein, ist präsent, hat die Augen geschlossen und ist die ganze Zeit in einem Dialog mit einem Therapeuten.

Moderatorin: Würdest Du sagen, dass man ein Trauma komplett therapieren kann? Ist das möglich oder meinst Du, dass das schwierig ist, weil wir wieder gewisse Situationen erleben, bei der ein Trigger hochkommt, der das Drama wieder auslöst?

Dr. Peiler: Das Trauma kann man natürlich niemals eliminieren. Es ist wichtig zu erlernen, damit zu leben und zu wissen, dass man ein oder mehrere Traumata erlebt hat und dass sie zur eigenen Persönlichkeit und Biographie dazugehören. Ein Trauma damit zu behandeln, dass man einfach nicht mehr daran denkt, funktioniert nicht. Entscheidend ist, dass ich eine gewisse Distanz dazu und eine gewisse emotionale Festigkeit bekomme. Natürlich können nach einer erfolgreichen Therapie immer wieder Dinge geschehen, die das wieder aufbrechen. Andererseits habe ich auf diese Weise durch die Therapie gelernt, mit diesen Dingen umzugehen.

In der Therapie geht es ja um einen emotionalen Lernprozess. Das ist aber nicht nur ein kognitiver Vorgang, bei dem ich einfach nur umdenke, sondern eine emotionale Entwicklung, die mich befähigt, automatisch mit mehr Gelassenheit und Gegenwartsbezug zu reagieren. Insofern habe ich natürlich bessere Widerstandskräfte, wenn ich erneut in ähnliche Situation komme.

Was für mich bei dem Thema noch wichtig ist: Wir reden immer über katastrophale Ereignisse, bei denen man typischerweise an Unfälle, Katastrophen und sexuellen Missbrauch denkt, die in unserer Gesellschaft häufig vorkommen. Es gibt aber auch emotionale Traumatisierungen – und das würde in den Typ 2 fallen –, also dass man über Jahre emotional missbraucht wird. Das können zum Beispiel Mobbing- oder Stalking-Situationen sein. Das sind aus meiner Sicht sehr relevante Ereignisse, die nicht das unmittelbare Leben bedrohen, die aber sehr tief die eigene psychische Integrität beeinflussen. Auch diese Vorgänge können Traumafolgestörungen mit den beschriebenen Symptomen auslösen.

Moderatorin: Vielen herzlichen Dank für das sehr interessante Gespräch, Peter. Danke Dir!