Podcast: Zwangsstörung

In der zehnten Folge der Power-Boost-Podcasts spricht Moderatorin Andrea Haefeli mit Dr. Peter Peiler über das Thema Zwangsstörung.


Hier finden Sie das komplette Interview zum nachlesen und als MP3-Download.

Moderatorin: Willkommen zum Podcast Power Boost. Mein Name ist Andrea Haefeli. Bei mir im Studio ist Dr. Peter Peiler. Er ist medizinischer Leiter und Mitglied der Geschäftsleitung in der Frauenklinik Meissenberg in Zug. Hallo Peter!

Dr. Peiler: Hallo Andrea!

Moderatorin: Heute reden wir über das Thema Zwangsstörung. Das kenne ich aus Filmen wie „Besser geht’s nicht“ mit Jack Nicholson, als er über die Strasse läuft und es Rillen in der Strasse hat, auf die er partout nicht drauftreten will. Das ist mehr eine lustige Geschichte, aber was genau ist eine Zwangsstörung?

Dr. Peiler: Zentrale Merkmale einer Zwangsstörung sind sogenannte Zwangshandlungen und/oder Zwangsgedanken. Das heisst, bei Zwangshandlungen geht es um Tätigkeiten und Handlungen, die man ritualisiert und ständig wiederholen muss, obwohl sie eigentlich unsinnig und unnötig sind und quälend sein können. Dazu gehören zum Beispiel die bekannten Wasch- und Kontrollzwänge.

Zwangsgedanken sind aufdrängende Vorstellungen und Ideen, deren Inhalte als negativ empfunden werden. Das sind oft aggressive Gedanken und Befürchtungen vor Verunreinigung oder sich anzustecken. Die drängen sich immer wieder auf, wiederholen sich und sind übertrieben. Eine Einsicht ist grundsätzlich dafür da, dass das übertrieben ist. Aber man kann weder das Denken noch das Handeln unterbrechen, weil eine ängstliche Spannung entsteht, die nur abgebaut werden kann, wenn man dem Zwang folgt.

Moderatorin: Den Waschzwang finde ich spannend: Ich habe mal eine Dame gesehen, die hat ihre Hände ständig waschen müssen. Das ist furchtbar, weil ihre Hände kaputt sind. Die Haut war fast nicht mehr existent. Ist das nicht schlimm, dass dieser Zwang fast zwangsweise zu Verletzungen führt.

Dr. Peiler: Ja, wobei das keine Selbstverletzungen ist. Die Person schrubbt sich die Hände ja nicht, um wie bei einer klassischen Selbstverletzung die Hände spüren zu können und den Schmerz zu erleben. Aber es hat natürlich das Ausmass einer Selbstverletzung. Das tragische ist eben, dass man trotz aller erlittenen körperlichen Folgen die Zwangshandlung selbst nicht unterbrechen kann.

Moderatorin: Würdest Du sagen, dass Zwangsstörungen angeboren sind oder kann etwa ein Trauma eine Zwangsstörung auslösen?

Dr. Peiler: Es ist ähnlich wie bei Angsterkrankungen, dass Zwangsstörungen auch eine sehr hohe genetische Belastung haben. Dann kommen noch bestimmte Einflussfaktoren aus der Umwelt und der persönlichen Entwicklung hinzu, die dabei eine Rolle spielen. Nach den klassischen psychoanalytischen Theorien spricht man zum Beispiel von einem Abhängigkeitsautonomiekonflikt, bei dem es dem Kind in der Entwicklung aufgrund sehr rigider Umgangsformen daheim (mit vielen Verboten und einer ausgeprägten Gewissenhaftigkeit) nicht gelingt, eine innerliche Freiheit und Autonomie zu entwickeln. Wenn dann – ganz normale – aggressive Gedanken da sind, kann es passieren, dass diese schuldhaft verarbeitet werden. Diese Gedanken müssen durch die Zwangshandlungen neutralisiert werden.

Moderatorin: Ich kann zum Beispiel nicht mit offenen Türen schlafen. Ich muss alle Schranktüren und die Zimmertür zumachen, bevor ich ins Bett gehe. Ist das schon ein Zwang oder nicht?

Dr. Peiler: Nein, das würde ich recht klar nicht als Zwang definieren. Es gibt viele Gewohnheiten, die man so hat. Beispiele dafür sind auch andere Phänomene wie etwa einen Ohrwurm, bei dem man immer dasselbe Lied singen muss. Auch das Kontrollieren von Türen und Elektrogeräten mag wie ein Zwang wirken, aber wenn es mich nicht in meinem Lebensalltag beeinträchtigt, kann man nicht von einer Zwangsstörung sprechen.

Man sieht das schon bei Kindern: Kleine Kinder haben kleine Rituale vor dem Schlafengehen. Alles muss so sein wie immer, die Stofftiere müssen richtig liegen. Kinder haben auch einen Glauben an die Macht ihrer Gedanken, an magisches Denken. Das sind alles Phänomene, die nicht direkt krankhaft sind. Krankhaft wird es, wenn es permanent stattfindet, man also täglich mit Zwangshandlungen und Zwangsgedanken zu tun hat. Und wenn sie so intensiv sind, dass sie mich bei der Bewältigung meines normalen Lebensalltags soweit beeinträchtigen, dass mein Umfeld beeinträchtigt wird, weil sich alle anderen auch nach meinen Zwängen richten müssen. Das hat dann wieder soziale Konsequenzen. Am Ende ist die soziale und individuelle Leistungsfähigkeit erheblich eingeschränkt.

Moderatorin: Unter dem Gesichtspunkt der Lebenseinschränkung: Wie unterscheidet man Zwangsgestörte? Es gibt ja solche, die nicht auf Rillen schauen können oder dreifach Türen abschliessen müssen. Das sind jetzt Zwangsstörungen, die das Leben nicht stark beeinflussen, aber was sind denn Beispiele, bei denen das Leben nicht mehr normal abläuft?

Dr. Peiler: Dieses Türschliessen und Türenkontrollieren kann natürlich schon zu einer richtigen Zwangsstörung werden, wenn man nicht mehr in der Lage ist, von zu Hause wegzugehen, weil man immer wieder zurückkehren muss.

Moderatorin: Ist das so extrem?

Dr. Peiler: Es kann sogar so extrem werden, dass man jede eigene Handlung mit einer Zwangshandlung verknüpfen muss. Mit Händewaschen oder dem ständigen Wiederholen von Zahlen, Wörtern und Sätzen. Auch mit bestimmten Handlungsabläufen und dem Schaffen von Ordnung. Das kann so weit gehen, dass man vor lauter Ordnung schaffen nicht mehr zu seiner normalen Arbeit kommt.

Es ist eben die Frage, wie ausgeprägt das ist: Schaffe ich es am Ende, normale Handlungsabläufe überhaupt noch effizient auszuführen?

Moderatorin: Ich finde das schon ziemlich krass: Man schliesst dreimal die Türe ab, weiss also, dass man sie dreimal abgeschlossen hat. Die Personen wissen das ja. Die vergessen das ja nicht in zwei Minuten. Trotzdem möchten sie das in einer halben Stunde noch mal kontrollieren. Was passiert da im Kopf?

Dr. Peiler: Man hat im Kopf immer wieder den pathologischen Zweifel, ob man eine bestimmte Handlung korrekt durchgeführt hat. Das ist ein Druck, der sich immer wieder aufbaut. Er kann nur neutralisiert werden, indem man es dann prüft. Es gibt beispielsweise Phänomene, dass man einen Gully überfahren hat und meint, dass der jetzt schräg auf der Strasse liegt und jemand darüber fallen könnte. Oder auch die Vorstellung, ich habe einen Menschen überfahren: Das kann dazu führen, dass man immer wieder zurückkehren muss, um zu überprüfen, dass das nicht wirklich passiert ist. Auf die Weise kommt man natürlich nie zum Ziel.

Moderatorin: Das kann man dann die nächsten fünfzig Jahre machen oder bis das Benzin alle ist?

Dr. Peiler: Der affektive Druck, der damit verbunden ist, baut sich natürlich irgendwann ab, sodass man aus der Situation schon wieder herauskommt. Das Problem bei Zwangsstörungen ist, dass sie viele Jahre oft verheimlicht werden. Andere bekommen oft nicht mit, dass man zu Hause diese Rituale ständig durchführt. Deswegen kommt man bei einer Zwangsstörung meist erst spät in eine Therapie. Da ist die Verhaltenstherapie, die man üblicherweise bei Zwangsstörungen anwendet, möglich und auch wirkungsvoll. In den letzten Jahren haben sich mehrere Möglichkeiten und Verfahren ergeben, die gut wirken. Aber es ist ‚harzig‘: Es ist nicht leicht, diese Verhaltensweisen zu durchbrechen.

Moderatorin: Würdest Du sagen, das Zwangsgestörte nicht wirklich therapierbar sind, man aber versucht, sie dahin zu bringen, dass man ein einigermassen normales Leben führen können?

Dr. Peiler: Nein, Zwangsstörungen sind definitiv therapierbar – auf jeden Fall. Ähnlich wie bei Angststörungen ist es immer davon abhängig, wie chronisch die Erkrankung ist und ob andere Erkrankungen damit verknüpft sind. Zwangsstörungen gehen oft auch mit depressiven Erkrankungen einher ...

Moderatorin: ... auch mit Magersucht und Bulimie?

Dr. Peiler: Die Anorexia nervosa (Magersucht) ist häufiger mit einer Zwangsstörung verbunden. Auch da geht es ja um aggressive Impulse, die abgewehrt werden müssen. Oder auch Menschen mit ADHS können dazu neigen, Zwangsstörungen zu entwickeln. Dann ist es oft eine Art Chaos-Kompensation, bei der sie besonders ordentlich lernen, was schliesslich zu Zwängen führen kann.

Die Prognose hängt davon ab, wie andere begleitende Erkrankungen mitbehandelt werden können. Prinzipiell ist es möglich, durch Exposition mit den Zwängen, Handlungen oder auch den Zwangsgedanken die Störung zu beheben. Es gibt verschiedene Möglichkeiten; in der Regel sind es abgestufte Expositionen. Es hängt immer davon ab, wie man es schafft, die Einsicht beim Patienten zu entwickeln, damit er sich dafür entscheidet, aktiv die Störung anzugehen. Wenn der Patient im Boot und das Umfeld gut eingebunden ist, dann ist es gut möglich, dass Verhalten zu ändern.

Moderatorin: Läuft das dann über Sitzungen, in denen man das therapiert, oder geht das medikamentös?

Dr. Peiler: Am effektivsten sind Expositionsbehandlungen daheim, wo die Zwänge ablaufen. Man geht also gemeinsam in die Situation hineingeht und begleitet den Patienten. Das kann auch mal ein paar Stunden dauern. Medikamentös gibt es auch Wege. Dazu gehören Antidepressiva wie Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Daten zeigen, dass höhere Dosierungen bei Zwangsstörungen besser wirken.

Entscheidende Wirkung hat aber aus meiner Sicht die Psychotherapie. Die Empfehlung ist, beides zu tun: Medikamentös plus psychotherapeutisch zu behandeln.

Moderatorin: Vielen herzlichen Dank, Peter, dass Du mit mir über dieses spannende Thema geredet hast. Vielen Dank!