Beziehung zwischen Pflegenden und Patientinnen

«Wir teilen den Alltag mit unseren Patientinnen»

Die Pflegenden in der Klinik Meissenberg sind ein wichtiger Teil des Behandlungsteams. Pflegedienstleiterin Monika Binder über den schwierigen Weg zwischen Nähe und Distanz.

Die Patientinnen in der Klinik Meissenberg sind nicht im landläufigen Sinne pflegebedürftig wie jene in einem Spital oder einer Rehaeinrichtung. Was tut die Pflege im Meissenberg?

Monika Binder: Vieles ist sehr ähnlich wie in einem Akutspital. So sind unsere Pflegenden 24 Stunden bei den Patientinnen. Unsere Klinik ist ebenfalls in Abteilungen organisiert, zum Beispiel für Depression und Burnout, Psychosomatik und Schmerz, Angst und Emotionsregulation, Abteilung für Krisenbewältigung und Privatabteilung Paracelsus. Selbstverständlich pflegen wir weniger im Sinne einer medizinischen körperlichen Versorgung. Wir sehen den ganzen Menschen auch in seiner seelischen Not und seinen sozialen Bedürfnissen. Unsere Pflege teilt den Alltag mit den Patientinnen, sie begleitet sie beispielsweise auch bei den Mahlzeiten.

Kann das für einige Patientinnen auch zu viel Nähe sein?

Dieses Risiko ist uns bewusst. Die Pflegenden verbringen nicht die ganze Zeit mit den Patientinnen. Unsere Pflegenden erkennen, wann es Distanz braucht oder wann sie intervenieren oder nachfragen müssen. Wir geben den Patientinnen auch Raum, für sich zu sein. Das Angebot der Möglichkeiten ist entscheidend, wie ein aktives Zuhören, ein achtsamer Spaziergang, die Patientinnen – indem, was sie uns zeigen – ernst zu nehmen und mit ihnen herauszufinden, was sie an Unterstützung brauchen.

Die zwischenmenschliche Beziehung zwischen Patientin und der Pflegefachperson ist demnach zentral. Gibt es dafür ein Regelwerk und festgelegte Prozesse?

Unsere Arbeit ist evidenzbasiert. Das heisst, wir beziehen neue theoretische Erkenntnisse, pflegerisches Fachwissen, sowie die Patientin als Expertin ihres Lebens mit ein.  Vieles ist geregelt und auch messbar. Sobald wir den ersten Kontakt mit der Patientin haben, beginnt die pflegerische Beziehung. Sie ist der Kern unserer Arbeit. Im Pflegeprozess selbst werden Informationen gesammelt, Fähigkeiten und Probleme erkannt, sowie Handlungen und Massnahmen geplant und abgeleitet und wieder evaluiert.

Die Beziehung zu den Patientinnen ist also nicht nur intuitiv, sondern die Pflegenden verfügen über konkrete Werkzeuge, die messbar sind?

Absolut, alles andere wäre unprofessionell. Wir suchen mit der Patientin nach ihrer pflegerischen Diagnose und leiten, wenn immer möglich, mit ihr Massnahmen ab, damit sie z.B. wieder Halt für sich findet. Wir passen den Pflegeprozess an und leiten davon neue Handlungen ab. Dies wird in der interprofessionellen Patientendokumentation ersichtlich. Unsere Aufgaben sind klar beschrieben. Wenn unsere Pflegenden gemeinsam mit den Patientinnen essen, ist das Arbeit, auch wenn es vielleicht nicht so wirkt. Doch die Pflegeperson muss fähig sein, im richtigen Mass und Zeitpunkt zu intervenieren, Hilfestellungen zu geben, sich zurückzunehmen, jemanden eventuell zu schützen, zu vermitteln. Entsprechend werden die Beobachtungen und Handlungen auch dokumentiert.

Was passiert, wenn eine Patientin zu viel in die pflegerische Beziehung zu einer Pflegeperson hineininterpretiert und plötzlich meint, eine Freundin fürs Leben gefunden zu haben?

Das kommt vor. Die Beziehungsgestaltung hat immer auch mit der eigenen Wertvorstellung zu tun und mit den Signalen, die ausgesendet werden. Diese Situationen schauen wir auch innerhalb des Teams und in der interprofessionellen Supervision genau an. In einem solchen Fall muss auch der Abschluss der Beziehung nach Behandlungsende thematisiert werden. Genauso problematisch ist es, wenn beispielsweise heikle Informationen nur einer Pflegeperson anvertraut werden. Dies kann zwar schmeicheln, ist zugleich aber eine Gefahr, bei der die Nähe und Distanz der professionellen Beziehung nicht mehr stimmt. In so einem Fall wird klargestellt, dass die Pflegeperson immer innerhalb eines Behandlungsteams handelt.
 

«Die pflegerische Beziehung ist der Kern unserer Arbeit.»

Monika Binder

Transparenz im Behandlungsteam ist also ein zentraler Wert?

Absolut. Die Beziehungen zwischen Pflegepersonal und Patientinnen sind dynamisch und manchmal verfolgen Patientinnen eigene Ziele, die nicht immer gesund sind. Es ist für unser Personal – egal ob in der Pflege oder in anderen Disziplinen – zentral, sich darüber offen auszutauschen. Dies dient auch zum eigenen Schutz der Mitarbeitenden.

Trotzdem gibt es engere und weniger engere Beziehungen zwischen Pflegepersonal und Patientinnen?

Ja, klar. Jeder Patientin wird eine Bezugsperson zugeteilt. Hier darf und soll eine etwas stärkere pflegerische Beziehung wachsen. Diese Fachperson ist zuständig für den Pflegeprozess und die saubere Erfassung aller relevanten Informationen.

Wie finden Pflegepersonen die richtige Balance zwischen Nähe und Distanz?

Trotz grosser Empathie für die Patientin haben wir eine professionelle Sicht. Das ist der Unterschied zum Beispiel zu einer Mutter, die eine Krise mit ihrem Kind durchlebt. Die Emotionen sind für Pflegefachpersonen einfacher zu kontrollieren. Wir stehen in einer beruflichen Beziehung, die zeitlich begrenzt ist und die zielorientiert in der Begegnung ist. Wir haben Regelungen und müssen unsere Aufgaben der nächsten Schicht übergeben können. An Rapporten oder gemeinsamen Gefässen des Austauschs mit anderen Berufsgruppen kann die Beziehung zur Patientin ein Thema sein. Dabei erhalten wir ein Feedback von aussen, was in der Beziehungsgestaltung wichtig ist.    
 

Was unterscheidet die Arbeit der Pflege von jener der Therapie?

Es ist ein gemeinsames Erarbeiten, was es braucht, damit die Patientin wieder den Boden unter den Füssen findet und die Verantwortung für sich selbst übernehmen kann. Mit der Zielsetzung, die abgeleitet von der Pflegediagnose ist, schauen wir, was wir gemeinsam mit der Patientin während des Aufenthalts verändern können, damit sie Werkzeuge erhält, um zuhause wieder stabil funktionieren zu können – mit ihrem Defizit und all ihren Fähigkeiten. Wir orientieren uns am Alltag der Patientin und erleben die Patientin im milieutherapeutischen Setting, wo sie ihr Verhaltensmuster zeigt. Die Patientinnen üben sich in Aufgaben, die wir beobachten und dokumentieren. Auch Pflege ist Therapie und es gibt viele Schnittstellen zwischen den verschiedenen Berufsgruppen. Eine gute Absprache untereinander ist deshalb entscheidend für die Patientin. 

Worauf lässt sich jemand ein, wenn er oder sie den Pflegeberuf in einer frauenspezifischen Psychiatrie ergreifen möchte?

Die Pflegefachperson lässt sich auf die Patientin ein und wird versuchen, die Person dahinter zu sehen. Sie erfährt dadurch von ihrer Verletzlichkeit, ihrer Sensibilität, ihrer Andersartigkeit und nimmt die Vielseitigkeit der Person wahr. Sie sieht die gesunden wie die kranken Anteile. Dabei bezieht sie das soziale Umfeld der Patientin mit ein. Frauen untereinander verhalten sich anders, als wenn Männer dabei sind. Die Atmosphäre ist im Allgemeinen viel ruhiger. Patientinnen unterstützen sich gegenseitig, tragen Fürsorge zueinander. Sie sind oft solidarisch untereinander und getrauen sich mehr, sich einzubringen. Insbesondere Frauen mit einem Migrationshintergrund öffnen sich leichter unter ihresgleichen. Die Aggressionen sind weniger nach aussen gerichtet, dafür gegen sich selbst. Oder sie zeigen sich in dissoziativen Zuständen. Und klar gibt es auch «Zickenkriege» und eine anspruchsvolle Erwartungshaltung. Insgesamt kommt mir aber eine viel grössere Dankbarkeit und Wärme entgegen. 

«Frauen untereinander verhalten sich anders, als wenn Männer dabei sind. Die Atmosphäre ist im Allgemeinen viel ruhiger.»

Monika Binder

Welche Voraussetzungen müssen Pflegende mitbringen?

Das Interesse und die Neugier am Menschen ist zentral an der Vielschichtigkeit und auch Andersartigkeit, die uns besonders in der Psychiatrie begegnet. Es braucht eine einfühlende, mitfühlende und positive Grundhaltung. Sie müssen sich auf eine gleichwertige professionelle Beziehung mit der Patientin einlassen können. Es braucht Geduld, Flexibilität und Die Fähigkeit aktiv und aufmerksam zuzuhören. Es braucht Kommunikationsstärke, um das Verstandene in Worte zu fassen und Offenheit für andere Wertvorstellungen als die eigenen.

Wohin wird sich der Pflegeberuf noch entwickeln? Stichwort Fachkräftemangel.

In unseren Fachangestellten Gesundheit EFZ steckt ein grosses Potenzial. Viele bilden sich danach weiter. Sie sind unsere zukünftigen Studierenden im Gesundheitswesen, ob als Pflegfachpersonen HF und FH oder als Pflegeexperten ANP. Der Beruf wird sich in die integrierte Versorgung erweitern. Dies durch die überalternde Gesellschaft und multimorbide chronische Erkrankungen. Es wird neue Modelle für die Organisation geben, gerade auch in Bezug auf den Fachkräftemangel. Auch die Rolle von ehemaligen Patientinnen wird wichtiger werden. Das ist ein grosser Erfahrungsschatz, auf den man zurückgreifen kann. Dieses Konzept der sogenannten Peer-Arbeit wird bereits von immer mehr psychiatrischen Kliniken verfolgt. Wenn Patientinnen Hilfe bekommen von Menschen, die das bereits durchgemacht haben, kann das sehr wertvoll sein.

Ist der Beruf attraktiv genug – auch finanziell?

Ja. Ich finde, es ist nach wie vor der schönste Beruf. Umso wichtiger ist es, dies auch nach aussen zu kommunizieren. Es geht um faire Löhne, damit wir konkurrenzfähig bleiben. Aber vielmehr geht es auch darum, den bewilligten Stellenschlüssel vollumfänglich besetzen zu können. Damit die Arbeit mit der Freizeit und der Familie oder Freunden im Gleichgewicht bleibt und die Selbstfürsorge nicht zu kurz kommt. 

Text Hansjörg Honegger

Foto Daniel Brühlmann

Monika Binder

Monika Binder ist Pflegedienstleiterin der Klinik Meissenberg und ausgebildete Pflegefachfrau HF mit MAS in Gerontologie an der BFH.
Sie führt fünf Teamleitungen und ist Vorgesetzte des Ausbildungsverantwortlichen, der Fachentwicklung Pflege und der Fachexpertin für Infektionsprävention. Der Pflegebereich der Klinik Meissenberg umfasst 45.6 Vollzeitstellen, 6 FaGe EFZ Lehrstellen und 6 HF Studierende.

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