Als Seelsorger im Meissenberg

«Ich bin ein Passagier, der zu einer Reise eingeladen wird»

Ueli Stirnimann ist Klinikseelsorger. Seine Aufgabe: Zuhören, reden, da sein. Ohne jeden therapeutischen Ansatz. Seine Lebensgeschichte erklärt, warum er genau der Richtige ist für diese Aufgabe.

Der Kalender der Patientinnen ist in der Klinik Meissenberg recht streng durchgetaktet: Gesprächstherapie, Gruppentherapie, Bewegung, Malen, Essenspausen. In enger Abstimmung mit dem Ärzteteam sollen die Wochen des Aufenthalts intensiv genutzt werden. Und dann gibt es da diese eine Person, die jeden Freitag in der Klinik ist und auf Besuch wartet, freiwillig, entspannt, ohne Erwartungen: Ueli Stirnimann, der Klinikseelsorger.

«Ich habe hier keinen therapeutischen Auftrag», betont der 56-jährige. «Ich bin nicht involviert in das therapeutische Setting, mache mir keine Notizen und muss an niemanden berichten, worüber ich mit einer Patientin spreche. Diese Gespräche sind ausserdem streng vertraulich.» Diese Gewissheit ermöglicht eine gewisse Lockerheit im Gespräch, auch wenn es zu Beginn oft von Unsicherheit geprägt ist. Viele Frauen entschuldigen sich erstmal, dass sie eigentlich mit Religion nichts am Hut haben und aus einer gewissen Neugier hergekommen sind. «Religion spielt in den Gesprächen nur sehr selten eine Rolle», erzählt Ueli Stirnimann. Vielmehr gehe es oft um eine Sinnfrage: Warum bin ich krank, warum passiert mir das?

Weinen und Lachen

Antworten will Ueli Stirnimann keine bieten. Er versteht sich vielmehr als Dienstleister: «Die Frauen können mir anvertrauen, was sie wollen. Sie sagen mir, wo es lang geht. Ich bin wie ein Passagier, der auf eine Reise eingeladen wird. Die Frauen können jederzeit sagen: Jetzt ist gut, ich steige aus.» Diese Haltung ermöglicht dem Klinikseelsorger immer wieder tiefe und berührende Gespräche. «Oft weinen die Frauen zuerst, berichten von schwierigen Lebensumständen, versuchen einen Sinn im Ganzen zu entdecken. Am Schluss des Besuchs sind sie nicht selten fröhlich und lachen», erzählt Stirnimann. Warum das so ist, muss nicht ergründet werden in dieser Stunde ohne therapeutischen Ansatz.
 

«Die Frauen können mir anvertrauen, was sie wollen.»

Ueli Stirnimann

Ueli Stirnimann wählt seine Worte mit Bedacht, ihm sind die feinen Unterschiede wichtig. Das Verständnis für seine Gesprächspartnerinnen schöpft er aus zwei Quellen: Seiner Ausbildung und seinem Lebenslauf, der nicht gradlinig war, sondern vielmehr geprägt von Widerständen, Zweifeln und schwierigen Entscheidungen. Gelernt hatte der Klinikseelsorger einst Koch. Doch im Alter von 20 Jahren verspürte er den innersten Wunsch, Theologie zu studieren. Geprägt von der Geschichte seines Vaters, der als Priesteramtskandidat in letzter Minute entschied, doch zu heiraten und Kinder zu haben. Doch der junge Koch wurde am Katechetischen Institut in Luzern abgelehnt: «Ich solle weiterhin Schnitzel-Pommes-Frites kochen, das sei mein Niveau», erinnert er sich mit einem Lächeln. 

Ein Leben mit Brüchen

Beruflich strebte der junge Mann trotzdem nach einer Veränderung. Er absolvierte eine dreijährige Psychiatrie-Fachpflegeausbildung und machte Karriere: Stationsleiter, Bereichsleiter, Sozialpädagogischer Leiter in der Kinderpsychiatrie. Er heiratete und hatte zwei Kinder. Und doch: Sein Leben verlief nicht ohne Brüche. Ueli Stirnimann verliebte sich in einen Mann und erkannte, dass dies sein Weg war. Sein Wunsch, doch noch eine religiöse Ausbildung zu absolvieren, liess im Laufe der Jahre nicht nach. Das Religionspädagogische Institut in Luzern schickte ihn nach drei Wochen wieder nach Hause: Ein geouteter Homosexueller, der in einer Beziehung lebt, war nicht tragbar. 

Ueli Stirnimann erzählt seine Geschichte mit ruhiger Stimme, manchmal einem leichten Lachen, ohne Groll. In der Landeskirche Luzern konnte er eine dreijährige Lehre als Katechet absolvieren. Doch auch hier holte ihn seine Art zu leben immer wieder ein. Die Reformierten hätten ihn genommen, allerdings nur, wenn er konvertiert wäre, was er nicht wollte. Diese Widerstände, die Zurückweisungen und die Suche nach sich selbst prägen das Leben von Ueli Stirnimann. Sie ermöglichen ihm aber auch, seinen Gesprächspartnerinnen vorurteilslos und offen zu begegnen. 

Die Traumstelle ist anstrengend

Jeden Freitag ist er in der Klinik Meissenberg. Er wartet auf Patientinnen, die ihn spontan aufsuchen können. Ueli Stirnimann hört einfach zu, macht keine Notizen hat keine therapeutischen Ziele. Und doch: «Am Abend bin ich jeweils völlig geschafft». Warum das so ist, erklärt er mit seiner Doppelrolle: Im Spital Affoltern arbeitet er als Psychiatriepfleger auf der Akutabteilung. In der Klinik Meissenberg ist er Seelsorger ohne jede therapeutische Aufgabe. «Ich bin während der Gespräche mit meinen Besucherinnen hoch konzentriert, ich nehme sie ganzheitlich wahr, auch das, was nicht ausgesprochen wird. Gleichzeitig muss ich streng darauf achten, eben genau nicht therapeutisch tätig zu werden.» Ein Kraftakt, jedes Mal. 
 

«Am Abend bin ich jeweils völlig geschafft.»

Ueli Stirnimann

Trotzdem spricht Ueli Stirnimann von seiner Traumstelle, wenn er seine Arbeit in der Klinik Meissenberg beschreibt. Die für ihn wichtigste Frage stellte er gleich zu Beginn des Bewerbungsprozesses. Sie fasst zusammen, was ihn sein Leben lang begleitete: «Sucht ihr einen Pfarrer mit Studium?». Das war nicht gewünscht. Vielmehr überzeugte die Klinikleitung das weit gefächerte Wissen und letztlich auch die grosse Lebenserfahrung von Ueli Stirnimann. Er kennt die schwierigen Seiten des Lebens, die Zurückweisung und auch die Zweifel, die manche Entscheidungen mit sich bringen. Heute ist er ein interessierter und verständnisvoller Zuhörer. Und alle sind froh, ist er nicht bei Schnitzel-Pommes-Frites geblieben.

Text Hansjörg Honegger

Foto Gabi Vogt