Eine Patientin erzählt

«Der Klinikaufenthalt ist für mich noch heute eine Ressource»

Der Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik ist für Personen in einer Lebenskrise noch immer mit vielen Ängsten und Vorbehalten verbunden. Fragen tauchen auf, Unsicherheiten und Zweifel sind stetige Begleiter in diesem Entscheidungsprozess. Eine ehemalige Patientin der Klinik Meissenberg erzählt, wie sie den Klinikaufenthalt erlebte.

V. macht keine halben Sachen: Sie studiert Umweltnaturwissenschaften, schreibt ihre Masterarbeit, beendet erfolgreich ihr Studium, ist Mutter eines 18 Monate alten Sohns, arbeitet zu 30 %, zieht mit ihrem Partner in ein Haus um und will das gleich auch noch selbst renovieren. Das war vor drei Jahren. Was folgte, war der totale Absturz: Zuerst eine Schulterverletzung, danach kein Sport als Ausgleich mehr, es folgen Schlafstörungen bis hin zur kompletten Erschöpfung und Schmerzen am ganzen Körper und schliesslich der Eintritt in die Klinik Meissenberg. V. lacht etwas ungläubig, wenn sie heute diese Zeit in kurzen Worten zusammenfasst.

«Der Anspruch meiner Eltern an mich war immer sehr hoch. Ich habe mein ganzes Leben lang versucht, diese Ansprüche zu erfüllen. Arbeit, Kind, Studium, Haus, Beziehung: Alles kein Problem, dachte ich mir damals. Ich ignorierte die Warnzeichen sehr lange: Die Schlafstörungen, keine Lust mehr zum Kochen, die zunehmende Überforderung. Schliesslich hatte ich einen kompletten Zusammenbruch, auch weil ich aufgrund einer Schulterverletzung keinen Sport mehr machen konnte, was für mich in stressigen Zeiten immer ein guter Ausgleich war. Ich wollte mir nicht eingestehen, dass es mir schlecht geht und ich nicht mehr allein aus dem Loch herauskomme. Als es wirklich nicht mehr ging, fühlte ich mich als Versagerin. Ich hatte auch schon während früherer Krisen den Anspruch, alles allein bewältigen zu können.»

«Ich ignorierte die Warnzeichen sehr lange: Die Schlafstörungen, keine Lust mehr zum Kochen, die zunehmende Überforderung.»

Trotz Schmerzen und Schlafstörungen packt V. den Klinikaufenthalt rational und effizient an. Ihre Hausärztin unterstützt sie nach Kräften, von einer Freundin wird die Klinik Meissenberg empfohlen. Die Nähe zu ihrem Wohnort und der schöne Garten überzeugen sie auf Anhieb. Aber trotzdem bleibt ein ungutes Gefühl: Sie empfindet den Eintritt in die psychiatrische Klinik als stigmatisierend, sie hat Angst, die Kontrolle zu verlieren.

«Ich wusste immer, es ist die richtige Entscheidung. Aber ich hatte auch Angst: Was erwartet mich in der Klinik? Ich bin sehr auf Sicherheit bedacht. Ich möchte möglichst alles kontrollieren oder mich zumindest auf die Umstände einstellen können. Ich hatte die Bilder im Kopf, dass man quasi eingesperrt ist und gezwungen wird, Medikamente zu nehmen. Ich hatte sehr gemischte Gefühle.»
 

Der Eintritt in die Klinik war überraschend positiv: V. wird vom Behandlungsteam wie auch von Mitpatientinnen herzlich empfangen, ihre Bedenken und Vorbehalte werden ernst genommen und thematisiert. Schnell findet sie wieder in ihre Rolle als starke Frau. Zu schnell, wie sich zeigen sollte.

«Ich habe mich mein Leben lang immer zusammengerissen. Dieses Muster kam auch in der Klinik zum Tragen. Viele Leute fragten mich, was ich eigentlich hier mache, mir gehe es ja gut. Dabei hatte ich noch immer Schmerzen, was ich aber nicht zeigte. Ich packte die Behandlung sehr kopflastig an, meldete mich für alle möglichen Therapien an und versuchte – einmal mehr – das Maximum zu bieten. Viel machen, schnell wieder nach Hause, dachte ich mir. Ich tigerte aber immer herum und ertrug Ruhephasen nur sehr schlecht.»

Der unbedingte Leistungswille von V. wird vom behandelnden Team erkannt und in der Gesprächstherapie thematisiert. Erste Fortschritte sind spürbar. Ein entscheidender Moment ergibt sich in der Bewegungstherapie. V. erinnert sich an diesen sehr emotionalen Moment, kämpft mit den Tränen, lacht und weint gleichzeitig, als sie sich erinnert.

«Ich habe mich mein Leben lang immer zusammengerissen. Dieses Muster kam auch in der Klinik zum Tragen.»

«Wir zogen in der Bewegungstherapie wahllos Kärtchen und mussten dann etwas dazu sagen. Bei mir erschien das Thema Leistung und Grenzen. Da sind dann plötzlich alle Dämme gebrochen. Das war schwierig, gleichzeitig war ich auch sehr dankbar für diese so lang verdrängten Gefühle. Es war sehr berührend und schön, auch wenn es in diesem Moment sehr traurig war. Eine Zeit lang habe ich fast ständig geweint. Heute sehe ich, dass diese Gefühle keine Schwächen sind, als die ich sie immer bewertet habe, sondern zu meiner Person und meinem Leben gehören. Grundsätzlich bin ich ein sehr mitfühlender Mensch, solange es um andere geht. Ich lernte in der Klinik, dass ich auch mit mir selbst mitfühlend sein darf.»

In der Klinik Meissenberg sind nicht nur die Beziehungen zum Behandlungsteam wichtig, sondern auch jene unter den Patientinnen. Während der verschiedenen Therapien sind sie in engem Kontakt, aber auch in der Freizeit, beim Mittagessen oder im vertrauten Gespräch im Garten.

«Ich hatte nie das Gefühl, in einer Klinik zu sein. Für mich war es eher eine Gross-WG nur mit Frauen. Es wurde mir erst im Nachhinein bewusst, wie wichtig die anderen Patientinnen für mich waren. Auch der Umstand, dass wir ausschliesslich Frauen waren, wirkte sich positiv auf mich aus. Allerdings begab ich mich sehr schnell in meine Rolle als starke Frau, die immer einen Rat weiss, was auch in Anspruch genommen wurde. Ich merkte aber auch dank der Therapie, dass mir das nicht gut tat, und ich konnte das mit meinem Behandlungsteam thematisieren. Nach einigen Wochen schaffte ich es, auch mal zu sagen, dass ich nicht helfen könne. Das tönt jetzt vielleicht eigenartig, aber das erleichterte mich sehr. Das Zusammenleben und auch die Auseinandersetzung mit den anderen Patientinnen war wie ein Übungsfeld, in dem man Sachen auch einfach mal ausprobieren konnte.»

V. ist Mutter eines 18 Monate alten Sohnes, als sie in die Klinik eintritt. Noch heute ringt sie um Worte, wenn es darum geht, den damaligen Zwiespalt zu beschreiben. Der Anspruch und das unbedingte Bedürfnis, für ihr Kind da zu sein, und gleichzeitig die physische und psychische Unmöglichkeit, diesen Anspruch auch einzulösen. 

«Der eigentliche Rollenkonflikt – einerseits als werktätige Frau, andererseits als fürsorgliche Mutter – war grundsätzlich nichts Neues für mich. Ich hatte zu Beginn meines Aufenthalts aber wirklich Mühe, auch mal Nein zu sagen, wenn ich zu häufig Besuch bekam. Ich war oft schlicht zu müde, konnte aber gleichzeitig dieses Bedürfnis nicht ernst nehmen. Im Gespräch mit meiner Psychologin gelang es mir, diesen Widerspruch zu klären. Sehr hilfreich war der Hinweis: Wenn es der Mutter gut geht, geht es auch dem Kind gut. Ich sagte zu meiner Familie: Lasst uns schauen, wie es geht und spontan entscheiden, ob ein Besuch drin liegt. Mein Sohn war immer in guten Händen, das war sehr beruhigend für mich.»
 

Nicht nur als Mutter, sondern auch im Job oder im Studium ist V. sehr stark selbstbestimmt. In der Klinik ist der Tagesablauf in einer klaren Struktur vorgegeben, dazu kommt die Angst vor einer Entmündigung. Heute blickt sie zurück und sieht diese Ängste nicht bestätigt. Auch wenn sie durchaus kritische Töne anschlägt. 

«Die klar vorgegebene Struktur mit Essen und Therapien war für mich zu Beginn absolut ungewohnt. Aber ich merkte schnell, dass mir das die nötige Ruhe bringt. Allerdings gab es Spannungen wegen der Medikamente: Ich war überzeugt, dass ich keine medikamentöse Unterstützung brauchte, die Ärzte betonten aber das nützliche Zusammenspiel von Medikamenten und Therapie. Ich konnte diesen Zwiespalt aber ganz offen mit meiner Psychologin besprechen, und ab dann war das auch kein Thema mehr. Ich war immer wieder erstaunt, wie ernst man meine Sorgen und Einwürfe genommen hat, und ich schätzte es sehr, dass ich stets auf Augenhöhe mit dem ganzen Meissenberg-Team sprechen konnte.»

Die Therapie von V. ist auf acht Wochen angelegt. Sie macht stetige Fortschritte, kann vieles thematisieren und anschauen, was ihren Zusammenbruch verursacht hatte. In der sechsten Woche dann der Stillstand: Keine Entwicklung mehr, kein Fortschritt in der Therapie. Es braucht ein weiteres – unerwartetes – Schlüsselerlebnis, das in den Augen vor V. den entscheidenden Durchbruch bringt. 

«Es kam ein Punkt, an dem ich nicht mehr wusste, warum es mir jetzt nicht mehr besser ging. Ich spürte eine gewisse Leere in mir, die nicht mehr weggehen wollte. Nach aussen war ich immer fröhlich, viele Leute schätzen mich auch als extrovertiert ein. Während des Klinikaufenthalts las ich sehr viel. Ich hatte viele Bücher dabei, darunter war auch eins über Depressionen und Melancholie, das ich schicksalshaft zum richtigen Zeitpunkt angefangen habe zu lesen. Ich entdeckte so, dass ich eine sehr stark introvertierte Seite habe. Die hatte ich aber gar nicht mehr wahrgenommen, ja, sogar verdrängt. Von dem Moment an, als mir dies bewusst wurde, fühlte ich mich wieder vollständig.»
 

«Wenn ich zurückdenke, war der Aufenthalt wie ein Neustart in ein Leben, das jetzt in vielen Dingen einfacher und genussvoller ist.»

Nach acht Wochen Klinikaufenthalt geht V. zurück in ihr Leben, das sich vordergründig nicht verändert hatt: Kind, Job, Haus, Partner – alles ist noch wie zuvor. Und doch bemerkt sie einen riesigen Unterschied.

«Der Klinikaufenthalt ist eine Ressource, auf die ich auch heute noch – nach drei Jahren – zurückgreifen kann. Mein Leben hat sich nicht komplett verändert, aber ich kann viel besser mit Konflikten und Tiefen umgehen. Ich habe in der Klinik Strategien gelernt, die ich immer wieder anwenden kann, ich hole schneller Hilfe, weil ich mich nicht mehr schäme, ich kann besser über meine Gefühle und Gedanken reden, weil ich mehr zu mir stehe und ich mich ernst nehme. Wenn ich zurückdenke, war der Aufenthalt wie ein Neustart in ein Leben, das jetzt in vielen Dingen einfacher und genussvoller ist. Und ich bin froh, dass ich mich voll und ganz darauf einlassen konnte, auch wenn ich Zweifel hatte und es ein sehr schmerzhafter und anstrengender Prozess war. Ja, ich glaube, es ist wichtig, dass man sich 100%ig darauf einlässt und dass man alle Zweifel und Unsicherheiten anspricht, für sich einsteht und dass man den Mut hat, schwierige Dinge anzugehen. Denn es lohnt sich - für mich hat es sich jedenfalls gelohnt, und dafür bin ich sehr dankbar.»

Text Hansjörg Honegger

Foto Daniel Brühlmann