Podcast: Borderline

In der zweiten Folge der Planet-105-Power-Boost-Podcasts spricht Moderatorin Andrea Haefeli mit Dr. Peter Peiler über das Thema Borderline.


Hier finden Sie das komplette Interview zum nachlesen und als MP3-Download.

Moderatorin: Herzlich willkommen zum Podcast Power Boost. Mein Name ist Andrea Haefeli. Bei mir im Studio ist Dr. Peter Peiler. Er ist Chefarzt in der Frauenklinik Meissenberg in Zug. Gruetzi Herr Dr. Peiler, hallo Peter.

Dr. Peiler: Hallo Andrea!

Moderatorin: Heute reden wir über das Thema Borderline. Borderline ist ein sehr breiter und weiter Begriff und auch eine eher seltene Krankheit? Peter, was ist Borderline?

Dr. Peiler: Zunächst: Ist es eine so seltene Erkrankung? Wir müssen davon ausgehen, wenn wir uns zum Beispiel die Schweiz anschauen, dass schon 200.000 bis 300.000 Menschen aktuell in der Schweiz an einer Borderline-Störung leiden. Borderline wird dann diagnostiziert, wenn eine bestimmte Anzahl an Diagnose-Kriterien bestehen, was nicht bedeutet, dass man dann keine Probleme hätte, die auch schon in Richtung Borderline gehen.
Zu deiner Frage, was das denn überhaupt ist: Borderline kann man beschreiben als eine anhaltende, überdauernde, tiefgreifende Störung der Emotionsregulation. Deswegen zählt man die Borderline-Störung auch den sogenannten Persönlichkeitsstörungen. Das ist also eine anhaltende Problematik in vielerlei Hinsicht, die eigentlich alle Lebensbereiche umfasst.

Moderatorin: Ist bei Borderline der Auslöser ein traumatisches Erlebnis oder sind das Faktoren, die man nicht definieren kann?

Dr. Peiler: Es gibt primär schon persönliche Voraussetzungen, mit denen man auf die Welt kommt. Beispiel: Impulsivität oder Neigung zu Depressivität, gedrückter Stimmung oder zu Schüchternheit. Ganz entscheidend ist bei der Entstehung von einer sogenannten Borderline-Störung eine sehr frühe oder sehr ungünstige oder unglückliche Lebenserfahrung, die nicht nur einmalig passiert, und die sich durch die Kindheit und Jugend zieht, wobei das nicht unbedingt an äußerlichen Ereignissen festzumachen ist.

Häufige Ursachen oder Hintergründe für die Entwicklung von Borderline-Störungen sind Dinge wie frühe körperliche Gewalt und auch frühe sexuelle Gewalt. Aber ein wichtiger Einfluss ist zum Beispiel auch die Erfahrung einer emotionalen Vernachlässigung im Laufe der Kindheit. Und das ist manchmal gar nicht so leicht herauszufinden, was letztlich genau passiert ist. Es gibt eben sehr verschiedene Umfelder, die man sich vorstellen muss. Zum Beispiel ein chaotisches Umfeld, in dem es Zuhause immer hoch her geht und es viel Gewalt gibt. Das ist noch leicht vorzustellen. Aber es gibt auch familiäre Umfelder, wo beispielsweise die Leistung ganz im Vordergrund steht. Bei denen es darum geht, diszipliniert zu sein. Wo es darum geht, die Gefühle abzuschalten. Es gibt aber auch Umfelder, wo es wichtiger ist, was die Nachbarn über einen denken, als was man selbst fühlt. Das Umfeld verlangt dann, dass man selbst nach außen hin immer zeigt, dass man eigentlich glücklich ist und alles harmonisch abläuft. Letztlich muss man sich das individuell genau anschauen.

Entscheidend für Kinder ist dann das Problem, dass sie nicht richtig lernen können, ihre eigenen Emotionen adäquat wahrzunehmen, zu benennen, und auch nicht lernen, wie kann ich denn mit Emotionen umgehen und sie als wichtige Signale wahrnehmen und sie bewältigen. Und das führt im Laufe der Entwicklung spätestens ab der Adoleszenz zu einer zunehmenden sogenannten emotionalen Instabilität.

Moderatorin: Du hast jetzt gerade das Elternhaus und die Kindheit erwähnt: Hat es da immer schon Borderline-Störungs-Symptome gegeben oder ist das immer ein schleichender Prozess, der erst im Erwachsenenalter sichtbar wird?

Dr. Peiler: Es ist natürlich so, dass erste Zeichen schon in der Kindheit da sind, gerade wenn man ungünstige Entwicklungsbedingungen hat, wie zum Beispiel Schüchternheit, Rückzug oder dass man sich früh impulsiv verhält. Oder dass man auffällt in der Peergroup und ein Störenfried ist. Kinder können auch so reagieren, dass sie abschalten, dass sie die Schule verweigern oder dass sie früher Angststörungen entwickeln. Das sind soziale Ängste und indirekte Zeichen, die natürlich nicht unbedingt bedeuten, dass jetzt jemand Borderline bekommt, aber die schon eine psychische Belastung des Kindes zeigen.

Moderatorin: Ich finde es schon schwierig, bei einem Kind davon zu reden, dass es Angst oder Depressionen entwickelt. Kann das Kind oder ein Borderline-Betroffener für sich selbst diagnostizieren, dass er krank ist?

Dr. Peiler:
Man erlebt, dass man mit dem Leben nicht klarkommt. Vielleicht macht es Sinn, wenn ich noch mal zu beschreiben versuche, was denn Borderline auf der Symptom-Ebene insgesamt ausmacht. Das was ganz im Zentrum bei einem Menschen mit Borderline steht, ist eine unheimliche Angst vor dem Alleinsein oder Verlassenwerden. Es gibt auch ein Gefühl einer chronischen Leere. Man fühlt sich wie ein hohler Kern und hat eine ganz unsichere, eigene Identität. Man ist sehr fremdbezogen und abhängig von den Reaktionen anderer Menschen. Das Selbstbild ist sehr instabil. Gleichzeitig sind auch die Beziehungen, die ich dann habe, sehr instabil. Sie sind sehr intensiv, können dann aber auch abrupt abbrechen, weil man die Beziehung aus dem Gefühl heraus entwertet, dass jemand gegen einen ist. Borderliner neigen auch dazu, dass sie eher die negativen Signale anderer Menschen aufnehmen. Manchmal nehmen sie auch neutrale Signale und Reaktionen als negative Reaktionen wahr. Dadurch fühlen sie sich wieder verlassen oder bedroht.

Also: wie kann man es selber merken? Man merkt es daran, dass man sich in Beziehungen nie sicher fühlt, dass man Beziehungen abbrechen muss, oder dass man unter Umständen in Abhängigkeitsbeziehungen kommt, in denen man letztlich über eigene Grundsätze hinaus bereit ist, Dinge zu tun, die man sonst niemals machen würde, nur um die Beziehung zu erhalten. Man merkt es außerdem an den unheimlichen Schwankungen der Emotionen. Emotionsregulation bedeutet letztlich: Ich habe ein anhaltendes Gefühl von einer hohen Grundspannung. Ich bin eigentlich immer irgendwo im Stress. Ich wache schon morgens auf mit einer sorgenvollen Erwartung, wie wohl mein Tag beginnt und was auf mich zukommt. Dann können alle möglichen Situationen Stress auslösen und meine Spannung steigt rapide an. Oder ich reagiere wahnsinnig schnell mit Stress – bis zu dem Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, verrückt zu werden und schnell für Entlastung sorgen zu müssen. Das ist purer Stress. Und dann braucht es lange, bis sich dieser Stress wieder abbaut. Mit anderen Worten: Ich komme nie zur Ruhe und bin ständig in einem Hyper-Arousal, in einer ständigen Aufmerksamkeit. Ständig stelle ich mir Frage: Was kann mir passieren? Es ist ein Gefühl des Bedrohtseins. Das sind Dinge von außen und natürlich auch von innen, meine eigene Welt.

Moderatorin: Du redest jetzt gerade von Stress-Entlastung. Gehört dazu auch das Ritzen – das machen Borderliner ja viel. Gehört das zur Stress-Entlastung?

Dr. Peiler: Ja, das Ritzen ist – das muss man leider sagen – eine sehr effiziente Form der Stress-Entlastung. In dem Moment, in dem man sich diesen Schmerzreiz setzt, lege ich mein völlig überfordertes Emotionssystem still, was recht schnell zu einer Spannungsreduktion führt. Wenn sich ein Borderliner in diesem Zustand des Hochstresses selbst verletzt, spürt er den Schmerz oft gar nicht so richtig. Das kommt dann erst später, genauso wie die Scham und das Schuldgefühl. Deswegen möchte er die Selbstverletzung dann auch verbergen.

Moderatorin: Wenn die Selbstverletzung nicht mehr genügend entlastet und vom Stress befreit, ist dann nur noch der Selbstmord der letzte Ausweg?

Dr. Peiler: Es gibt natürlich ein Risiko von Suizid – auch bei Borderline-Patienten. Allerdings ist das Risiko so hoch wie bei depressiven Erkrankungen. Es gibt gleichwohl einen großen Anteil an Menschen mit Borderline-Störungen, die im Laufe ihres Lebens einen Suizid-Versuch unternehmen. Man spricht immerhin von 60 Prozent. Wobei die allermeisten Suizid-Versuche nicht gelingen. Denn die Suizidalität ist ein Ausdruck von Überlebenskrampf, es zeigt die Verzweiflung und den Versuch, herauszukommen aus dem Dilemma. Aber das ist nicht so anzusehen wie bei einer Depression. Da ist es eine definitive Entscheidung – ich bereite es vor und dann mache ich es. Bei Borderline ist es mehr ein Ausdruck von Not und Verzweiflung. Es gibt häufig immer noch einen Rest, der verhindert, dass ich dann tatsächlich sterbe.

Moderatorin: Kann Borderline auch eine akute Erkrankung sein oder ist das etwas, was ein Leben lang andauert?

Dr. Peiler: Mit emotionaler Instabilität ist auch verbunden, dass man in Lebenskrisen gerät. Das sind dann natürlich die akuten Phasen, in denen diese Schwankungen besonders stark ausgeprägt sind und in denen auch mein Verhalten, also meine ganze Symptomatik, besonders stark ist. Die Folgen sind, dass man sich häufiger selbst verletzt als sonst, dass man anfängt, unkontrolliert Drogen zu konsumieren, dass man auch in sexueller Hinsicht ein zu bewegtes Leben führt und das Leben damit außer Kontrolle gerät und man aus dem normalen sozialen Kontext (Beruf, Arbeit, Beziehung) herausfällt. 

Das sind die akuten Phasen; das braucht Zeit, bis man da herauskommt. Es gibt wiederum stabile Phasen, in denen man aber trotzdem noch belastet ist durch Instabilität, mangelnde Identität und die Angst vor dem Verlassenwerden. Längerfristig kann man die Verhaltensebene therapeutisch gut behandeln. Das gilt auch für die Selbstverletzung. Da gibt es heutzutage gute Therapie-Konzepte, die auch speziell für Borderline-Störungen entwickelt wurden. Was häufig leider überdauernd ist, ist das Gefühl des hohlen Kerns. Aber statistisch gesehen ist es so, dass ab dem dritten Lebensjahrzehnt die Hauptsymptomatik abnimmt und man insgesamt ruhiger und emotional stabiler wird.

Moderatorin: Wenn ich mich entscheide, doch eine Therapie zu machen, was gibt es für Therapieformen oder wie läuft so eine Borderline-Therapie genau ab?

Dr. Peiler: Es gibt spezielle psychotherapeutische Verfahren, die sich mit der Borderline-Störung auseinandersetzen. Es geht um verhaltenstherapeutische Verfahren. Eine wichtige Methode ist die dialektisch behaviorale Therapie; es gibt die Schema-Therapie und eine sogenannte mentalasation-based Therapie sowie eine übertragungsfokussierte Therapie (das ist dann mehr tiefenpsychologisch). Aber alle Verfahren sind sehr emotionsfokussiert und suchen eine Balance zwischen einerseits Veränderung und andererseits Akzeptanz.
Bei allen Verfahren ist es wichtig, der betroffenen Person zu vermitteln, dass sie verstanden wird, dass es nachvollziehbar ist, was sie tut, denkt und fühlt. Und zu vermitteln, dass das, worauf sie reagiert, emotional eigentlich eine Falle ist. Etwas, das aus der Vergangenheit kommt, aber die heutige Situation, auf die sie reagiert, gar nicht so bedrohlich ist.  Auf diesem Weg kann sie lernen, in den heutigen belastenden Situationen gesünder und wohlwollender mit sich umzugehen.
Ein wichtiges Ziel in der Psychotherapie ist, dass die Patienten eine innere Bindung mit sich selbst schaffen, also nicht von sich selbst abkoppelt sind und es schaffen, innen eine Wahrnehmung zu lernen: Wie fühle ich mich, wie denke ich, wie sind meine Muster und damit in der heutigen Realität bewusster umgehen können.

Moderatorin: Ist es eigentlich möglich, dass man mit Psychotherapie und ohne Medikamente Borderline therapieren kann?

Dr. Peiler: Es gibt keine definitive Medikation für die Borderline-Störungen. Die entscheidende Therapie ist die Psychotherapie. Wenn man Medikamente einsetzt, geht es darum, Begleitsymptome und andere psychische Störungen, die häufig verbunden sind mit Borderline, zu behandeln. Dazu gehört die Behandlung von Depression – Borderline-Patienten sind in den Akutphasen eben auch depressive Patienten – und Angststörungen. Wenn man Phasen hat, in denen man sogar die Realität verkennt, es fast wahnhaft wird (auch das gibt es in den akuten Phasen bei Borderline-Patienten), dann können entsprechende Medikamente zum Einsatz kommen. Die Borderline-Störung selbst wird aber nicht medikamentös behandelt. 

Moderatorin:
Vielen herzlichen Dank, Peter. Borderline war ein sehr spannendes Thema. Vielen Dank, dass Du da warst und uns einen Besuch abgestattet hast und wir das Studio nutzen durften.