Podcast: Verhaltenssucht

In der elften Folge der Power-Boost-Podcasts spricht Moderatorin Andrea Haefeli mit Dr. Peter Peiler über das Thema Verhaltenssucht.

Hier finden Sie das komplette Interview zum nachlesen und den kompletten Podcast als MP3-Datei zum Download.

Moderatorin: Willkommen zum Podcast Power Boost. Mein Name ist Andrea Haefeli. Bei mir im Studio ist Dr. Peter Peiler. Er ist medizinischer Leiter und Mitglied der Geschäftsleitung in der Frauenklinik Meissenberg in Zug. Hallo Peter!

Dr. Peiler: Hallo Andrea!

Moderatorin: Heute reden wir über das Thema Verhaltenssucht. Das ist ja ein sehr komplexes Thema. Kannst Du mir kurz und knapp erklären, was so typische Verhaltenssüchte sind?

Dr. Peiler: Unter den Verhaltenssüchten verstehen wir die sogenannten nicht stoffgebundenen Süchte, bei denen man also keine Substanzen konsumiert. Man kann sie auch als „Neue Süchte“ bezeichnen. Darunter fallen insbesondere das pathologische Glücksspiel (im englischen „Gambling Disorder“) oder auch das IT-Gaming, also die Computer-Internet-Sucht. Andere Formen sind zum Beispiel Kaufsucht oder Sexsucht.

Moderatorin: Nehmen wir als Beispiel für die Computer-Internet-Sucht einmal das Beispiel Fortnite, was ja momentan in aller Munde ist. Sind da explizit nur junge Menschen betroffen oder hat das keine Altersgrenze?

Dr. Peiler: Nein, das kann natürlich jede Altersgruppe betreffen. Allerdings ist es so, dass diese Spielsüchte sich bei jungen Menschen häufen – im Vergleich zu Älteren.

Moderatorin: Es ist ja schon krass, wenn die Jugendlichen 14 Stunden vor der Playstation hocken. Die müssten ja auch noch in die Schule gehen, etwas essen und am Familienleben teilnehmen. Was passiert da eigentlich in dem Kopf von so einen Teenager?

Dr. Peiler: Vielleicht sollte ich vorher erklären, was eine Sucht ausmacht. Es geht ja um Verhaltensweisen, die irgendwie zu einer emotionalen Belohnung führen. Suchtverhalten sollte man nicht gleich pathologisch, also zu einer Krankheit machen. Das Streben nach einer Belohnung ist ein Verhalten, das es immer schon gab. In der ganzen Entwicklung der Säugetiere war das Verhalten immer schon darauf fokussiert, eine Belohnung oder Erfolg zu bekommen.

Es wird aber zu einer Sucht und Abhängigkeit, wenn es exzessiv betrieben wird und damit das ganze Denken und die Ausrichtung der Wahrnehmung sich auf dieses Verhalten konzentriert. Das ist ähnlich wie bei Substanzsüchten, bei denen man nur noch an den Nachschub denkt: Das ganze Interesse und der ganze Tag richtet sich nur noch danach. Man ist eingeengt und hat ein ständiges Verlangen – es gibt da den Begriff des Cravings, den kann man auch auf Verhaltenssüchte ausweiten. Dazu kommt der Kontrollverlust: Man kann es nicht mehr steuern und kann nicht mehr darauf verzichten.

Es gibt auch Entzugssymptome, wenn die Person versucht, darauf zu verzichten. Sie wird unruhig, gereizt, ängstlich und bekommt Schlafstörungen. Dabei vernachlässigt sie ihr normales Leben, zieht sich auch sozialen zurück, hört auf sich zu waschen (das kann bis zu richtiger Verwahrlosung führen) und isst nicht mehr richtig. Das sind alles Folgen, die auch mit einem Leidensdruck einhergehen.

Moderatorin: Diese Form der Internetsucht lässt sich ja als Jugendlicher sehr schlecht verstecken. Man kann das ja nicht im Geheimen machen. Man braucht einen Bildschirm und kann sich nicht immer vor den Eltern im Zimmer verschanzen. Es ist ja eine Sucht, der man nicht anonym nachgehen kann.

Dr. Peiler: Innerhalb der Familie ist es natürlich so eine Sache. Wenn man sich ständig in seinem Zimmer versteckt, dann werden sich die Eltern und Angehörigen natürlich fragen, was der Mensch da die ganze Zeit macht. Aber es ist schon so, dass es typisch für diese Art der Sucht ist, sich dafür zu schämen. Man versucht schon, es zu verharmlosen und zu verleugnen; man verdrängt es und will nicht wahrhaben, dass man da irgendein Problem hätte.

Oft wenden sich Menschen mit diesem Problem zuerst mit sogenannten Präsentiersymptomen an andere. Sie sagen dann, sie haben Schlaf- und Konzentrationsstörungen, fühlen sich nervös und gereizt oder haben Magen-Darm-Beschwerden. Das tun sie, ohne zuzugeben oder darauf hinzuweisen, dass sie ein Verhaltensproblem haben.

Moderatorin: Wenn man 14 Stunden am Stück spielt, dann muss man doch auch selber einsehen, dass man da ein Problem hat. Kommen die Leute dann von allein zu Dir, oder sind das eher Eltern oder Ausstehende, die das initiieren?

Dr. Peiler: Meistens sind es die negativen sozialen Konsequenzen. Es gibt Beziehungsabbrüche, Konflikte und man verliert den Arbeitsplatz und macht Schulden – insbesondere, wenn man das mit Glückspielverhalten verknüpft. Durch den Rückzug verarmt man auch total. Irgendwann wird man dann gedrängt, weil auch die Konflikte zunehmen. Das führt dazu, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das kann allerdings sehr mühsam sein, insbesondere wenn die Einsicht gar nicht da ist.

Moderatorin: Bei einer Spiel- und Casinosucht gibt es ja auch materielle oder finanzielle Verluste, die man da erleidet. Man könnte zwar meinen, dass das eine an sich harmlose Sucht sei. Aber wie sehen das Aussenstehende?

Dr. Peiler: Für einen Aussenstehenden ist es erstmal gar nicht so leicht, abzugrenzen, ob dieses Verhalten jetzt schon übertrieben ist oder nicht. Das Ganze steht ja auch noch im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Normen und Trends. Es gibt ja Bewegungen, Vereine und Gruppierungen, die bestimmte Dinge leben, die leicht zu einer Sucht werden können. Insofern ist das von vielen Faktoren beeinflusst und abhängig.

Entscheidend ist der entstandene Leidensdruck und dass man negative Zustände vermeiden möchte, also auch den Entzug vermeiden möchte. Suchtverhalten zielt an sich – wie ich anfangs gesagt habe – auf eine Belohnung ab. Das Belohnungssystem hat damit zu tun, dass man aversive Zustände verhindern oder besänftigen möchte. Damit sind natürlich besonders die Menschen für eine Verhaltenssuchtproblematik anfällig, die die passenden Voraussetzungen und emotionalen Probleme mitbringen. Sie können ohnehin schon vereinsamt oder ausgeschlossen sein. Sie können auch in ihrer Entwicklung ein Problem mit ihrer Emotionsregulation gehabt haben. So bekommt das noch eine andere Funktion: Der Beruhigung von schlechten, negativen Affekten.

Moderatorin: Würdest Du bei der Spielsucht von Minderjährigen sagen, dass die Eltern hier eine Aufsichtspflicht haben, damit das erst gar nicht passiert? Und dass sie eventuell sogar eine Mitschuld tragen, wenn die Kinder abhängig werden?

Dr. Peiler: Das ist immer so eine Sache mit der Schuldfrage. Das hängt immer davon ab, wie man aufwächst. Die Eltern können ja auch ihre Verhaltensprobleme haben. Ich glaube aber, dass es sehr wichtig ist, die Entwicklung des Kindes zu berücksichtigen und ihm nicht zu früh Gelegenheiten schafft: Also, dass man nicht zu früh beginnt, das Kind mit freiem Internet zu konfrontieren, sondern das kontrolliert versucht zu tun, und insbesondere darüber spricht, es nicht verleugnet oder verbietet. Es geht darum, von vornherein einen reifen, vernünftigen Umgang damit zu lernen. Das Internet kann man ja auch für ganz viele, gute Dinge nutzen.

Man sollte auch bestimmte Situationen vermeiden, wie etwa einen Fernseher oder Internet im Kinderzimmer. Der sollte an einem Ort zugänglich sein, wo eine bestimmte soziale Kontrolle besteht. Wenn man die Sucht selbst hat, kann man auch für sich entscheiden, das Gerät aus dem Zimmer zu verbannen, um sich selbst zu schützen. 

Moderatorin: Gehen wir doch noch mal zurück zum Mega-Game „Fortnite“: Es gibt dafür Weltmeisterschaften, in denen junge Burschen unter 20 auf einen Schlag eine Million verdienen – quasi eine doppelte Belohnung. Damit fördert die Gesellschaft diese Entwicklung ja geradezu.

Dr. Peiler: Richtig. Nur müssen wir jetzt aufpassen, dass wir nicht all‘ diese Menschen jetzt gleich zu Süchtigen abstempeln. Die sind in einem gewissen Sinne professionell, gehen eher einem Job nach. Es gibt ja auch viele Workaholics. Genauso könnte man behaupten, „workaholic“ wäre pathologisch. Es ist wirklich nicht so leicht, das zu differenzieren. Ich glaube, man muss im Einzelfall schauen, wie die sonstigen Lebensumstände sind.

Moderatorin: Wie kann man die Computerspiel- und Internetsucht denn nun am besten therapieren und wieder loswerden?

Dr. Peiler: Am Anfang ist es natürlich wichtig, mit dem Betroffenen dahingehend zu arbeiten, dass er nach und nach einsieht, dass er ein Problem hat. Am Anfang steht die Motivation, etwas zu tun. Das geht zum Beispiel darüber, dass man über das Problem aufklärt; feststellt, dass es kein Einzelfall, sondern etwas typisches und nachvollziehbares ist. Bei jedem Einzelnen leitet man dann her, woher es kommt und warum er konkret dieses Verhalten entwickelt hat. Und dann schaut man sich mögliche Massnahmen an, wie man da wieder rauskommt. Es gibt mittlerweile psychiatrische Ambulanzen, die sich darauf spezialisiert haben.

Moderatorin: Ist das abrupte Beenden des Spielens bei einem Minderjährigen eine vernünftige Methode? Also zu sagen: Du hast ab jetzt Fernsehverbot oder Internetverbot. Das ist natürlich eine radikale Lösung, aber ist das vernünftig oder eher kontraproduktiv?

Dr. Peiler: Ich würde das eher als kontraproduktiv bezeichnen. Das ist eine Hauruck-Methode, die wahrscheinlich eher eine Reaktionsbildung nach sich zieht. Es geht zuallererst darum, dem Betroffenen zu zeigen, dass man ihn versteht, und mit ihm gemeinsam zu schauen, dass er vielleicht noch ein anderes Problem hat, was darunter liegt. Das ist dann das notwendige Verstehen, um ihn anschliessend zu motivieren, selbst den Wunsch zu entwickeln, auch andere Dinge zu tun, Freunde zu haben oder eine Partnerin zu finden.

Einen Punkt möchte ich noch hinzufügen: Wenn man sich dann mehr und mehr von der Sucht gelöst hat, sollte man weiter auf sich achten. Das Suchtverhalten fängt mit ganz unwichtigen Dingen an. Der Engländer nennt es seamingly unimportant decisions, also dass man sich nicht etwa vornimmt, das Wochenende alleine zu verbringen. Das sind unbewusste Vorbereitungshandlungen, um dann doch wieder rückfällig zu werden. Man sollte also darauf achten, nicht wieder in seinem Verhalten und seiner Lebensplanung in den Strudel hineinzugeraten.

Moderatorin: Vielen herzlichen Dank, Peter!